anbahnendekatastrophe

"Die sich anbahnende Katastrophe" - was verbirgt sich wirklich hinter dem Gender Critical Movement?

Julia | 14.07.2021

Disclaimer: Features vertreten nicht unbedingt die Meinung des BUUH!-Teams, sondern dienen dazu, Gastautor*innen eine Plattform zu Themen zu liefern, die sie bewegen.



Trans Menschen sind sichtbarer denn je. In vielen Ländern entbrennen derzeit hitzige Debatten über ihre Menschenrechte, und trotz wichtiger Fortschritte ist transphobe Gesetzgebung seit einigen Jahren wieder im großen Stile auf dem Vormarsch. Unterstützung kommt dabei auch aus dem feministischen Lager, wo Gender Critical Feminists durch trans-freundliche Gesetzgebung Einschnitte in die Frauenrechte erwarten. Doch was steckt wirklich dahinter? 

Achtung, Content-Warnung: Ich setze mich in diesem Artikel mit transphoben Argumenten und Meinungen auseinander – aber natürlich mit dem Ziel, sie zu entkräften. 


Vertreter*Innen genderkritischer Ansichten werden sich in den allerseltensten Fällen tatsächlich als transfeindlich*** outen – allein der Vorwurf wird oft vehement abgestritten.

Ich bin eine cis Frau, und verfolge mit großer Angst das wachsende Gender Critical Movement

Fangen wir ganz am Anfang an: Für einige von uns ist das Akronym „TERF“ – trans exclusionary radical feminist – wohl erst letztes Jahr mit dem Social Media-Shitstorm, der Harry Potter-Autorin J.K. Rowlings ereilte, zum Begriff geworden. Rowling solidarisierte sich mit der Wissenschaftlerin Maya Forstater, deren Vertrag aufgrund transphober Tweets von ihrem Arbeitgeber nicht verlängert wurde. Forstater hatte in ihren Tweets (unter anderem!) implizit trans Frauen als „males“ bezeichnet, dies jedoch als „gender critical […] philosophical beliefs“ verteidigt. Für ihre Unterstützung Forstaters und weiter Aussagen wurde Rowling als „TERF“ betitelt.

„TERF“ wird von betroffenen Personen oft als Beleidigung, gar als slur, empfunden. Häufiger anzutreffen ist daher ihre Selbstbezeichnung: „Gender Critical“ (oder kurz „GC“).* Natürlich wird hiermit eine sehr breite Spanne an Menschen abgedeckt, die keinesfalls 1:1 mit radikalen Feminist*Innen – oder  überhaupt Feminist*Innen – gleichgesetzt werden sollte. Einher geht der Gruppe aber die Annahme, dass Geschlecht (sex) einzig und allein biologisch bestimmt sei, wohingegen Geschlechtsidentität (gender identity) als fehlgeleitete „Ideologie“ abgetan wird. Kurzum: Trans Frauen seien keine Frauen, trans Männer keine Männer.**

Trotz dieses sehr simplistischen – und offensichtlich falschen – Grundarguments sind genderkritische Ansichten auf dem Vormarsch. In Großbritannien gehören sie nunmehr zum feministischen Mainstream, und auch in Deutschland muss man den Blick nicht erst in die EMMA werfen, um verdächtigen Formulierungen zu begegnen. Wie kann das sein? Die britische Aktivistin Katy Montgomerie fasst das Problem treffend zusammen: “One of the most frustrating things about GC views is they are always wrapped in several layers of [...] misdirection.” Vertreter*Innen genderkritischer Ansichten werden sich in den allerseltensten Fällen tatsächlich als transfeindlich*** outen – allein der Vorwurf wird oft vehement abgestritten. Stattdessen begegnen uns Argumente in scheinbar rationaler, feministischer Sprache und machen es somit umso schwieriger, ihnen entgegenzutreten. 

Trans Menschen, und insbesondere trans Frauen, werden in dieser Argumentation als eine Art unbekannte Bedrohung dargestellt, obwohl gerade sie es sind, die im Alltag und im Netz oft nicht nur Hass, sondern auch körperlicher Gewalt ausgeliefert sind. Laut Transgender Europe (TGEU) wurden 2020 weltweit 350 Menschen aus transfeindlichen Motiven ermordet: Überdurchschnittlich betroffen waren (insbesondere nicht-weiße) trans Frauen. 

Jüngst entbrannte eine Debatte um Gesetzesentwürfe der Grünen und FDP, die vorsahen, das bestehende Transsexuellengesetz (TSG) durch ein sogenanntes Selbstbestimmungsgesetz zu ersetzen. Anstelle des teuren, langwierigen und oft als entwürdigend empfundenen Prozesses zur Änderung des Namens- und Geschlechtseintrags sollte ein weniger aufwändiger Vorgang treten. Ganz ähnlich geschah es 2018 in Großbritannien mit einer geplanten Reform des dortigen Gender Recognition Act, die ebenfalls eine Selbstbestimmung – self-identification oder Self-ID – der eigenen Geschlechtsidentität vorsah. 

Beide Gesetzesentwürfe scheiterten, und in beiden Fällen kristallisierte sich unter ihren Gegnern schnell ein zentrales Argument heraus: Fortan müsste „[…]ein erwachsener biologischer Mann“, so die EMMA vom Mai/Juni 2021, „nicht mehr tun, als seinen Wunsch nach einem w im Personalausweis auszusprechen.“  J.K. Rowling behauptete in ihrem Essay, sie sei „triggered“ von der Vorstellung, dass fortan „die Türen jeder öffentlichen Toilette und jedes Umkleidezimmers jedem Mann offen stünden, der behaupte, eine Frau zu sein.“ Die Süddeutsche Zeitung warnte in einem Artikel zum Thema vor allem vor der Gefahr, cis Männer könnten sich fortan „einfach als Frau eintragen lassen“, etwa um Frauenquoten zu erfüllen oder um – so ein Fachanwalt in München –  „ihre […] Strafe wegen Vergewaltigung […] im Frauengefängnis abzusitzen.“ 

So alarmistisch diese Argumente klingen mögen, sie lassen außen vor, dass auch jetzt weder in Deutschland noch Großbritannien Maßnahmen existieren, die Männer davon abhalten würden, etwa öffentlich Damentoiletten aufzusuchen – ob mit W im Pass oder ohne. Wohin soll das Ganze also führen? Geburtsurkunden-Check vor dem Toilettengang für alle Frauen, die nicht „feminin“ genug aussehen?****  Schreckliche Einzelfälle wie den von Karen White, die tatsächlich im Frauengefängnis übergriffig wurde, wird es immer geben,  doch sie sollten auch genau als solche betrachtet werden: Einzelfälle. Bedenklicher scheint die sehr reale Tatsache, dass es gerade trans Menschen selbst sind, die im Gefängnis Diskriminierung und Gewalt erwartet, und die in vielen Fällen zudem in falschen Gefängnissen inhaftiert werden – in den USA etwa sitzen laut einer Untersuchung der NBC News die Mehrheit aller trans Frauen in Männergefängnissen und umgekehrt. Eine Änderung des Personenstands ist auch mit Self-ID nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, und zu glauben, cis Männer würden fortan reihenweise Schlange stehen, um skrupellose obige Ziele zu verfolgen, ist vor allem eines – transphob. In den 15 Ländern, in denen vergleichbare Gesetze zur Self-ID bereits gelten, wurde kein Anstieg von Übergriffen vermerkt, was auch von einer US-amerikanischen Studie (US review of ‘Evidence Regarding Safety and Privacy in Public Restrooms, Locker Rooms, and Changing Rooms’) bestätigt wurde.

Im Kern dieses Arguments steht also nicht der Schutz von (cis) Frauen, sondern etwas anderes: Eine irrationale Angst vor und Leugnung der Existenz von trans Menschen, und gerade trans Frauen.

Im ähnlichen Stile kam noch ein weiteres Argument in der Debatte um die Selbstbestimmung auf: “I’m concerned about the huge explosion in young women wishing to transition and also about the increasing numbers who seem to be detransitioning (returning to their original sex), because they regret taking steps that have, in some cases, altered their bodies irrevocably, and taken away their fertility” – so J.K. Rowling. Auch in der Süddeutschen wurden diese Ängste aufgegriffen, und die EMMA schreibt gar von einer „anbahnenden Katastrophe“ von Geschlechtsänderungen durch „Mädchen, die aus den Zumutungen der Rollenerwartungen flüchten wollen und denen die Lösung „trans“ mit immer größerer Selbstverständlichkeit angeboten wird.“ 

Die Behauptung ist also, der in den letzten Jahren vermerkte Anstieg von Menschen, die geschlechtsangleichende Behandlung anstreben, würde gerade unter jungen Frauen auf gesellschaftlichen Sexismus zurückgehen und nicht auf eine tatsächlich vorliegende Transidentität. Fast so, als könnten trans Männer automatisch sämtlichen sexistischen Vorbehalten unserer Gesellschaft entfliehen und problemlos ein einfaches Leben im männlichen Privileg genießen – was absolut nicht der Fall ist, wie Erfahrungsberichte wie zum Beispiel der des Autors Linus Giese belegen.

Gerne wird in diesem Kontext auch davon gesprochen, Debatten seien aufgrund gefürchteter Vorwürfe von Transphobie kaum möglich. Niemand streitet jedoch in Einzelfällen die Existenz der oben beschrieben Fälle ab, in denen Menschen später vorgenommen geschlechtsangleichende Maßnahmen bereuen. Laut Studien etwa des US-amerikanischen National Center for Transgender Equality und des britischen NHS sind die Zahlen jedoch verschwindend gering: In der US-Studie gaben nur 0,4 Prozent der ca. 28.000 Befragten an, sich endgültig für eine Detransition entschieden zu haben. 

Wieso also all die Panikmache? Prof. Jules Gill-Peterson von der University of Pittsburgh bringt es auf den Punkt: „Trans children are hyper visible right now. In our culture, they’re everywhere: They’re in the news, they’re on TV, they’re online, they’re in film. But that new visibility is being taken as proof that they are new as a population of human beings. […] In reality, trans youth have a very long history.” Mit den ständigen Mutmaßungen, bei nonkonformen Geschlechts- und damit Transidentitäten handle es sich generell und gerade unter Kindern und Jugendlichen um eine vorübergehende Phase und gesellschaftliche Erfindung, ist niemandem geholfen. Verleugnet wird eine Jahrhunderte lange Geschichte: Trans (und nicht-binäre) Menschen hat es immer gegeben - ob sie nun historisch als solche bezeichnet wurden, oder nicht. 

In einer großen Studie des Trevor Project von 2020 gaben 52% der trans und nicht-binären Menschen unter den Befragten im Alter von 13 bis 24 Jahren an, in den letzten 12 Monaten Suizidgedanken gehegt zu haben. Bei Unterstützung ihrer Identität durch die Menschen in ihrem Umfeld halbierte sich diese Zahl. Kindern also den Weg zu entsprechender Unterstützung und Behandlungsoptionen zu öffnen, ist ungemein wichtig: “Are there risks to getting gender affirming care? Maybe. But are there risks for not getting gender affirming care? Definitely. And the risks of the latter usually outweigh the former,” - so Dr. Jack Turban vom Massachusetts General Hospital.


Das sind nur zwei Beispiele der genderkritischen Argumentationsweise, die sich in den feministischen Mainstream eingeschlichen haben. Eine Sensibilisierung ist wichtiger denn je, denn die Rechte von trans Menschen sind international unter Beschuss: Die transphobe Gesetzgebung unter Donald Trump mag vielen ein Begriff sein, doch auch 2021 unter der Biden-Regierung erfolgt auf Ebene der US-Bundesstaaten ein nie da gewesener Angriff auf die Menschenrechte von trans Personen, und insbesondere Kindern und Jugendlichen. Bisher wurden über 100 transfeindliche Gesetzesentwürfe vorgelegt, von denen 13 bereits erlassen wurden. In Florida soll es trans Mädchen fortan untersagt sein, Sportmannschaften für Mädchen beizutreten, und in Arkansas wird es für Kinder künftig keinen Zugang zu spezifischer medizinischer und therapeutischer Versorgung für trans Menschen (gender affirming care) mehr geben. In Großbritannien gewann die von Rowling unterstützte Maya Forstater 2021 im Berufungsgericht – ihre genderkritischen Ansichten wurden dort nach ihrer Niederlage vor Gericht 2020 nun als persönliche Philosophie und nicht als indirekter Angriff auf trans Menschen eingestuft. Ende 2020 urteilte der British High Court, dass Jugendlichen unter 16 fortan keine sogenannten Pubertätsblocker mehr verschrieben werden dürften – also Medikamente, die die Pubertät vorübergehend pausieren und etwaigen langfristigen Eingriffen vorangehen. Das Urteil wurde prompt in Kliniken in Schweden übernommen, wo die öffentliche Debatte um Trans-Rechte 2019 gekippt war. Ganz zu schweigen von Ungarn, wo es seit letztem Jahr überhaupt keine rechtliche Anerkennung von trans Menschen mehr gibt.

Wenn noch nicht geschehen, ist es also allerhöchste Zeit, sich zu solidarisieren: Trans-Rechte sind Menschenrechte, und genderkritische Regulierung und Überwachung von Geschlechtsidentitäten und ihrer Auslebung betrifft auch cis Menschen. Diese Debatte geht uns alle etwas an. 

Empfehlungen für die weitere Themenvertiefung, im Video- und Podcast-Format: 


Contrapoints – Gender Critical und J.K. Rowling 

https://www.youtube.com/watch?v=1pTPuoGjQsI

Ja, mir ist bewusst, dass auch Contrapoints/Natalie Wynn jüngst innerhalb der Trans-Community kritisiert wurde – trotzdem halte ich ihr Video zu Gender Critical-Argumenten für einen sehr gelungenen Einstieg ins Thema. Dazu auch ihr Video spezifisch zu J.K. Rowling: 

https://www.youtube.com/watch?v=7gDKbT_l2us


Lindsay Ellis – The Roots of Pop Culture Transphobia 

https://www.youtube.com/watch?v=cHTMidTLO60


WNYC Studios - Trans* Formations

https://www.wnycstudios.org/podcasts/otm/episodes/trans-formations-on-the-media

Eine Reihe von Podcast-Folgen, die sich mit politischem Umgang mit, medialer Repräsentation und der Geschichte von trans Menschen im US-amerikanischen Kontext auseinandersetzen. 


und außerdem: 


Philosophy Tube – A Trans Coming Out Story

https://www.youtube.com/watch?v=AITRzvm0Xtg

Youtuberin Abigail Thorn outete sich kürzlich als trans Frau. In diesem Video stellt sie den Weg bis zu ihrem Coming Out auf höchst ungewöhnliche, einprägsame und berührende Weise dar. 

*Weil es meiner Recherche nach noch keine standardisierte deutsche Bezeichnung gibt, werde ich dem Textfluss zugunsten teils die deutsche Version „genderkritisch“ verwenden. 

**Intersex Personen und/oder nicht-binäre Identitäten werden außerdem meistens völlig außen vor gelassen. 

*** Aufgrund der Konnotationen des Begriffs “Phobie” wird von einigen gerade im Deutschen die Bezeichnung “transfeindlich” anstelle des häufiger anzutreffenden “transphob” bevorzugt. Im Artikel nutze ich beide Begriffe. 

**** Interessant in diesem Kontext ist die 2016 eingeführte, extrem kontroverse North Carolina Bathroom Bill, die allen Einwohnern des US-Bundesstaates vorschrieb, fortan nur noch solche öffentlichen Toiletten aufsuchen zu können, die mit dem Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde korrespondierten. Nach einem extremen Anstieg von transphoben und sexistisch motivierten Übergriffen wurde das Gesetz 2019 außer Kraft gesetzt.

Quellen

https://www.nytimes.com/2019/02/07/opinion/terf-trans-women-britain.html
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/transfeindlichkeit-im-netz-der-hass-der-anderen/20950418.html

https://katymontgomerie.medium.com/addressing-the-claims-in-jk-rowlings-justification-for-transphobia-7b6f761e8f8f

https://www.thetrevorproject.org/survey-2020/?section=Suicide-Mental-Health

https://transrespect.org/en/tmm-update-tdor-2020/

https://www.theguardian.com/society/video/2021/jun/25/how-trans-kids-rights-are-under-attack-in-america-video

https://www.theguardian.com/commentisfree/2018/oct/19/gender-recognition-act-feminist-self-identification-consultation

https://www.nbcnews.com/think/opinion/j-k-rowling-s-maya-forstater-tweets-support-hostile-work-ncna1105201

https://www.forbes.com/sites/jamiewareham/2020/05/25/trans-rights-in-global-recessionone-year-after-transgender-removed-from-who-list-of-diseases/

https://journals.sagepub.com/doi/pdf/10.1177/2158244020927029

https://www.bbc.com/news/uk-england-cambridgeshire-55144148

https://www.bbc.com/news/uk-57426579

https://mermaidsuk.org.uk/news/safety-and-dignity/

https://www.zeit.de/zett/politik/2021-05/transsexuellengesetz-bundestag-ablehung-groko-gesetzentwurf-gruene-selbstbestimmungsgesetz-tsg

https://www.jkrowling.com/opinions/j-k-rowling-writes-about-her-reasons-for-speaking-out-on-sex-and-gender-issues/

https://www.nbcnews.com/feature/nbc-out/media-s-detransition-narrative-fueling-misconceptions-trans-advocates-say-n1102686

https://www.nbcnews.com/feature/nbc-out/transgender-women-are-nearly-always-incarcerated-men-s-putting-many-n1142436

https://www.theguardian.com/society/2018/oct/11/karen-white-how-manipulative-and-controlling-offender-attacked-again-transgender-prison

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1147023.transgeschlechtlichkeit-transidentitaet-ist-ein-fremdwort.html

https://www.theguardian.com/society/2020/feb/22/ssweden-teenage-transgender-row-dysphoria-diagnoses-soar

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