BerechnendBefangenBiden

Berechnend, Befangen: Biden


Cyberliz, 02.11.20

Morgen ist es so weit. Mit einer Mischung aus Angst und Hoffnung schaut die gesamte Welt auf die USA. Morgen - und vermutlich auch noch in den nächsten Wochen und sogar Monaten - wird sich entscheiden, ob die Republikaner oder die Demokraten den Präsidenten stellen dürfen. Was uns mit Donald Trump erwartet, hat sich in den letzten vier Jahren bereits herauskristallisiert, während Joe Biden verspricht, aus diesen Trümmern wieder das Beste für sein Land herauszuholen. 
 
Mit Kamala Harris als running mate versucht er auch Antirassist:innen und Feminist:innen für seine Wählerschaft zu gewinnen, wovon er sich gegenüber Trump wohl einen Vorteil verspricht. Doch auch im Hinblick auf Harris' konservative Haltung sollten wir prüfen, wie feministisch und liberal Biden denn wirklich ist. Vorab: Die Bilanz zu seiner Person und seiner politischen Agenda fällt nicht sonderlich positiv aus. 

Bei den Stimmen, die Joe Biden sexualisierte oder sexuelle Gewalt vorwerfen, handelt es sich schon lange nicht mehr um Einzelfälle. Partisanen bezeichnen ihn auch gerne ganz keck als „creepy Uncle“, der gerne mal an Haaren schnüffelt oder widerliche Liebkosungen an seine Kolleginnen austeilt, wie kürzlich Lucy Flores, eine demokratische Politikerin, erzählt. Tara Reade gehört auch zu den Opfern, die Bidens Machtposition ausgeliefert waren. Dass ein alter weißer Mann in einer Machtposition wiederholt Frauen angräbt, ist leider nichts, was überrascht. 1993 arbeitet Reade für den Senator Biden in Delaware. Vor einem Jahr tritt sie an die Öffentlichkeit und erzählt davon, wie er sie zu sich in das Senatsgebäude hat rufen lassen, um eine Sporttasche vorbei zu bringen. Sie dort mit anzüglichen Worten in eine beklemmende Situation gebracht, sie anschließend an die Wand gedrückt, ihr unter den Rock gegriffen und mit seinen Fingern penetriert hat. Sowohl Tara Reade als auch Lucy Flores hatten den erforderlichen Mut, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, denn #MeToo funktioniert nur, wenn sich Betroffene lautstark solidarisieren. 

Obwohl vor mehr als einem Jahr durch die Veröffentlichung im Podcast von Kate Harper oder investigativen Beiträgen von Ryan Grim von The Intercept einschlägige Beweise ans Licht kommen, finden diese Vorfälle kaum Beachtung. Grim belegt in seiner Recherche, dass diese Story verschleiert worden ist, von Organisationen wie Time’s up, die eigentlich Betroffenen von (non-)verbaler Gewalt finanziell oder juristisch weiterhilft, aber sich in diesem Fall geweigert hat die Ermittlungen gegen Joe Biden zu unterstützen. Die Strippen hatte dabei die Chefin der PR-Agentur von Time’s up in der Hand, die gleichzeitig die oberste Beraterin des Biden Präsidentschaftswahlkampfs ist. 

Selbst nach der Offenlegung eines klar gewollten Verschleierungsversuch dieser Taten, blieb das mediale Echo leise. Wenn liberale Medien und Anhänger*innen der demokratischen Partei nur darüber berichten und diskutieren, wie sehr derartige Enthüllungen seinem Wahlkampf schaden könnte und nicht wie sehr diese gesellschaftliche Problematik das Leben von Frauen beeinträchtigt, möchten wir uns nicht mehr wundern über das leise kritische Brummen, dass die Medienlandschaft der westlichen Welt in Bezug auf Joe Biden hinterlässt. Strategisch? Ja vielleicht, immerhin ist er das geringere Übel unter den “Vergewaltigern” der Präsidentschaftskandidaten. Dennoch möchte ich erläutern, wieso mit Biden nicht die große erhoffte Veränderung (zum Positiven) eintritt: 

Möchte man Joe Biden in das politische Spektrum in Deutschland einordnen, wäre er in der CDU/CSU. Er gilt als mainstream moderater, konservativer Demokrat, der als „sicherer“ und einziger Kandidat den gemeinsamen Nenner widerspiegelt: Trump loszuwerden. Seit 1977 ist er in der politischen Sphäre zu Hause und dabei stechen in seiner Karriere einige Punkte heraus, die alarmierende Empörung auslösen sollten:

Bereits 1973 reagierte er auf eine Entscheidung des obersten Gerichts „Roe gegen Wade“, die Abtreibung für amerikanische Frauen legalisierte, nämlich dass es „zu weit ginge“ und dass eine Frau nicht das "alleinige Recht haben sollte, zu sagen, was mit ihrem Körper geschehen soll“. 1981 stimmte er für eine Gesetzesvorlage, die es Staaten erlaubt hätte, die Abtreibungsrechte für illegal zu erklären. Dieses Thema scheint Biden nicht in Ruhe zu lassen, denn nach ihm wurde sogar ein Anti-Abtreibungs-Änderungsantrag benannt, der die Bezahlung biomedizinischer Forschung im Ausland im Zusammenhang mit Abtreibung verboten hätte, jedoch nicht durchsetzbar war.

Auch wenn er jetzt postuliert, die Rechte von Frauen zu unterstützen, äußert er sich nicht zu konkreten Maßnahmen, wie dies passieren soll. Klassischer Fall von Symbolpolitik. Biden an der Macht bedeutet keine strukturellen Veränderungen, dafür braucht es nach wie vor die Gesellschaft. Für einen alten weißen Mann in einer Machtposition sind Frauenrechte Tropfen, die er auf seiner Brille schnell wegwischt, damit seine Sicht auf die Welt nicht verschwimmt. 

Dass seine politische Haltung höchst fragwürdig ist, bestätigen auch seine Aussagen bezüglich Reparationen für Afroamerikaner, die er im Jahr 1975 für nicht notwendig hält. Nach den Protesten der starken Black Lives Matter-Bewegung, erkennt der im 21. Jahrhundert nun angekomme Biden, dass struktureller Rassismus existiert und durch soziale Programme zur Unterstützung von Minderheiten bekämpft werden müsse, was er durch Investmentfonds in Höhe von 30 Milliarden Dollar erreichen möchte. Liberale entgehen gerne Konfrontationen, in dem sie Reformen vorschlagen, sie versprechen Gerechtigkeit und ökonomische Stabilität für alle. Dabei erfolgt aber letztlich keine Umverteilung von Vermögen, sodass kein Wandel stattfindet. 

Biden spiegelt mit seiner Vision als Präsident den rückwärtsgewandten Teil der Gesellschaft wider. Mit diesem mittelmäßigen, konservativen Kurs kann er hoffentlich die weiße Arbeiterklasse der Staaten des Rust Belt von Donald Trump abwerben. Er stammt selbst aus Pennsylvania und verspricht der Wählerschaft bei einem Sieg, die von der Stahlindustrie geprägten Städte und Orte mit profitable Technologien auszustatten, die gleichzeitig die Klimakrise aufhalten sollen. Und diese Stimmen sind bedauerlicherweise im Wahlsystem der USA meist entscheidender als die junger und weiblicher Menschen, sowie BIPoC

Genau mit dieser parteipolitischen Vergangenheit ist Biden der Kandidat, der am meisten mit den Republikanern liebäugeln kann und somit für vielversprechende Kompromisse wirbt. Die demokratische Partei verlässt sich auf ihn und hat aus der Wahl 2016 gelernt: Kein Anti-Biden Wahlkampf, dafür eine vereinte demokratische Partei, die wieder an die Macht kommen will und dabei beide progressiven Augen schließt. Führende Politiker*innen des linken Flügels wie Bernie Sanders und Elizabeth Warren sprechen sich aus strategischen Gründen für ihn aus, obwohl die Inhalte zwischen den Lagern sich nur in wenigen Punkten treffen. 
Sozialpolitisch möchte er den föderalen Mindestlohn auf 15 Dollar pro Stunde anheben. Biden stellt sich außerdem eine breitere Wirtschaftspolitik vor und sein Build Back Better-Plan wird vor allem die Unterstützung der jungen Arbeiter*innen bekommen. Sein Plan für 2020 sieht vor, dass die US-Regierung 300 Milliarden Dollar in den USA hergestellte Materialien, Dienstleistungen, Forschung und Technologie investieren soll.
Als ehemaliger Vizepräsident war er eine starke Hand für den Ausbau von Obamacare. Daran möchte er auch in seiner möglichen Legislaturperiode anknüpfen und 97% der Amerikaner*innen Versicherungsschutz bieten. Die Vorschläge des linken Flügels eine universelle Krankenversicherung zu gestalten, die das profitorientierte Zwei-Klassen Gesundheitswesen aufbrechen könnte, lehnt er jedoch ab.

Auch wenn einige Inhalte vielversprechend klingen, werden diese die Wahl sowieso nicht entscheiden. In den USA werden Wahlkämpfe extrem personalisiert und die Kampagnen auf den Kandidaten zugeschnitten. Es zählt also, was Biden nach außen hin verkörpert und nicht, für was er inhaltlich steht. 
Biden kann für die demokratische Partei auch einen Nachteil bedeuten, denn er spricht nicht den Teil der Gesellschaft an, die sich wirklich Reformen und Veränderungen herbeisehnen. Die Basis, die eine Revolte der rassistischen und sexistischen Strukturen wünschen, wird er nicht täuschen können. Er wird vor allem nicht für die Frauen sprechen können, für die „creepy Uncle Joe’s“ peinliche Entschuldigungen nicht mehr ausreichen.

Hoffentlich wird die Mobilisierung für die Wahlurnen ausreichen, doch für ein wahrhaftig offenes und progressives Amerika, muss der Kampf erst richtig losgehen, wenn Joe Biden im Amt ist. Sollte Donald Trump das Rennen machen, wäre dieser Kampf - pessimistisch gesehen - für die nächsten 4 Jahre erstmal unterdrückt.
Share by: