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“Ala Kachuu” - Aller Entscheidungen beraubt 

Nati | 19.08.2021

Triggerwarnung: (Psychische) Gewalt, Vergewaltigung


Auf der eigenen Hochzeit von Gästen entführt werden und in der nächsten Kneipe warten, bis der Bräutigam einen “freikauft” - diese Tradition empfinden viele Hochzeitspaare als einen Klassiker auf jeder Feier. Doch während diese Tradition in Deutschland meist mit lustigen Erinnerungen endet, hat die Tradition der Brautentführung in Kirgistan eine andere Bedeutung. Eine weitaus traumatischere.

“Ala Kachuu” bedeutet übersetzt so viel wie “Packen und Losrennen” und beschreibt gut, wie sich viele Männer in Kirgistan eine Frau zu ihrer machen. Verschiedenen Schätzungen nach wird jede zweite bis dritte Ehe in dem Land in Zentralasien durch Brautraub vollzogen. Die Frauen werden meist auf offener Straße entführt und zwangsverheiratet. Manchmal an Männer, die sie flüchtig kennen. Manchmal an Männer, denen sie zuvor noch nie begegnet sind. 


Doch beginnen wir mit etwas Geschichte: Nach 1919 wurde Kirgistan schrittweise in die Sowjetunion eingegliedert. Bereits ein Jahr früher wurden das aktive und passive Frauenwahlrecht eingeführt - zeitgleich wie in Deutschland. Die sowjetischen Exekutiven legten einen
großen Wert auf die Emanzipation in Zentralasien. Frauen wurden genauso wie Männer als eine wichtige Arbeitsressource angesehen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Sie wurden gebildet und gefördert, auch soziale Sicherheiten wie Schwangerschaftsurlaub sowie Kindergeld standen unter dem sozialistischen Regime der Sowjetunion auf dem Plan. So sollten Frauen ihr Berufsleben mit der Familie vereinbaren können.


Obwohl sich bis zur Unabhängigkeit Kirgistans im Jahr 1991 sowohl das Ausbildungsniveau sowie der soziale Status von Frauen verbesserte, kam mit dem Ende der Sowjetunion auch der Brautraub zurück. “Ala Kachuu” war unter dem sowjetischen Regime streng verboten, ebenso wie andere kirgische Traditionen bekämpft wurden. Die Unabhängigkeit nach den vielen Jahren Modernisierung brachte bei den Kirgisen nicht nur den Wunsch, ihre eigene Sprache zu sprechen, sondern auch, ihre Identitätspolitik und Traditionen aufleben zu lassen. Vor dem 20. Jahrhundert gab es den Brautraub nur in bestimmten Gegenden Kirgistans - und auch nur, wenn die Braut einverstanden war. Anders galten die Rechte der betroffenen Familie und der Sippe als verletzt, was in Nomadenzeiten zu kriegerischen Zuständen führen konnte. 


Die alte Tradition wurde also wieder aufgenommen, jedoch anders. Grausamer. Heute kommt “Ala Kachuu” außerdem nicht mehr nur in bestimmten Regionen vor. Frauen im ganzen Land sehen sich der Gefahr ausgesetzt, von wildfremden Männern entführt und anschließend vor den Traualtar gebracht zu werden. 

In den meisten Fällen von “Ala Kachuu” wird die Frau von einer Gruppe Männern in ein Auto gezerrt und in das Haus der Familie des Bräutigams gebracht. Dort wird sie bereits erwartet - manchmal nur von seiner Familie, teilweise auch von ihrer eigenen. Psychischem Druck und Drohungen ausgesetzt soll die Frau schließlich den „jooluk“ – den traditionellen Brautschleier – anlegen, dessen Aufsetzen als Einwilligung der Braut angesehen wird. Die Hochzeitsnacht ist meist von Gewalt und Vergewaltigung geprägt. Denn um die Ehe “richtig” zu vollziehen, wird von der Braut erwartet, mit ihrem Mann Sex zu haben. Psychische und physische Gewalt nehmen auch nach der Hochzeitsnacht für viele Frauen in Kirgistan kein Ende.

Doch wo bleibt der Widerstand, den Schleier nicht anzulegen? Wieso enden nur 17 Prozent der Entführungen mit einer Freilassung? 

Nach einer Nacht im Haus eines Mannes und ohne vollendete Hochzeit erwartet eine Frau in Kirgistan gesellschaftliche Ausgrenzung, oft auch von der eigenen Familie, die nicht immer unbeteiligt an dem Brautraub ist. Zudem spielt das nach wie vor vorherrschende Frauenbild in Kirgistan eine große Rolle. Von einer gesellschaftlich gut angesehenen Frau wird verlangt, sich anzupassen. Auch wenn das bedeutet, nach der Ehe alle eigenen Träume und Lebensvorstellungen aufzugeben, das Studium oder die Ausbildung abzubrechen, um die fremde Schwiegermutter im Haushalt zu unterstützen. 


Der Staat spielt beim Erhalt dieses unterdrückerischen Systems eine entscheidende Rolle. Schafft es die Frau irgendwann, sich aus den patriarchalischen und frauenverachtenden Strukturen zu befreien und lässt sich scheiden, kann sie nicht auf Unterstützung vom Staat hoffen. Die meisten Zwangsehen werden kirgisch-traditionell durchgeführt, also nicht standesamtlich. So behält sich der Mann die Macht, über Frauen zu verfügen.
Gäbe es eine andere Frau zu rauben, kann er ohne rechtliche, gar gesellschaftliche Konsequenzen, seine alte Frau wieder auf die Straße setzen. Sie hat dann weder das Recht für sich, noch für ihre Kinder Unterhalt zu beziehen. Verteidigt wird der Brauch entweder durch das patriarchale Recht, die Tradition (die eben keine wirkliche ist) oder durch die Fehlinterpretation des Islam. Denn der Prophet Mohammed hieß selbst im Koran den Frauenraub und die Entführung von Frauen nicht gut.


Erst zu Beginn dieses Jahres zeigten Überwachungskameras aus der Hauptstadt Bischkek, wie eine 27 Jahre alte Frau in ein Auto gezerrt wurde. Zwei Tage später wurde sie tot aufgefunden, getötet von dem Mann, der sie zur Hochzeit entführen wollte. Als sie sich wehrte, brachte er erst sie, schließlich sich selbst um. Nicht selten endet Brautraub in Femiziden oder mit dem Tod, wenn Frauen sich aus Angst vor der kommenden Folter aus fahrenden Autos stürzen. 

Trotz Protesten und Schein-Bemühungen der Politik sind die Frauen den patriarchalischen Strukturen in Kirgistan auch 20 Jahre nach der Unabhängigkeit des Landes machtlos ausgesetzt. Nicht zuletzt, weil Männer bereits im jungen Alter mit dem misogynen Bewusstsein aufwachsen, sich eine Frau einfach zu nehmen, wenn man(n) sie will. Obwohl der Brauch im In- und Ausland stark kritisiert wird und den Tätern eine Freiheitsstrafe droht, wird die Strafverfolgung weit weniger stark umgesetzt, als es das Gesetz vorsieht. Die wenigsten Frauen trauen sich, ihre Entführer und späteren Männer anzuzeigen. Vor 2000 bis 2012 wurden gerade einmal 159 Anzeigen wegen Brautraubs bei der Polizei gemacht. Obwohl das Strafmaß seitdem erhöht worden ist (das für Viehraub ist nach wie vor höher), hat sich an den Zahlen nicht viel geändert. 


Seit Kirgistans Unabhängigkeit wurde das Land unter anderem auch von der EU durch verschiedene Entwicklungsprogramme finanziell unterstützt. Von 2014 bis 2020 flossen
110 Millionen Euro von der EU nach Kirgistan - zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit und Bildung. Und obwohl genau diese beiden Sektoren ein besseres Leben der Frauen in Kirgistan beeinflussen könnten, hat sich ihre Lebensrealität kaum geändert. Trotz dieser prekären Versäumnisse Kirgistans wird die EU dem Land auch in Zukunft Finanzhilfen zukommen lassen, scheinbar ohne Bedingungen, was Frauenrechte angeht. Und das, wo doch die Gleichberechtigung der Geschlechter im Vertrag von Lissabon seit 2009 als gemeinsames Ziel der EU festgeschrieben wurde. Inwiefern sich damit die EU ihrer Wirksamkeit beraubt und dadurch stiller Teilhaber an solchen Machtstrukturen bleibt, kann jede:r selbst bewerten.


Im zentralasiatischen Raum gilt Kirgistan als das Land mit den größten politischen Freiheiten - noch.
Am 11. April 2021 stimmten die Kirgis:innen für eine neue Verfassung, die dem Präsidenten deutlich mehr Macht verleiht. Inwiefern dieser sich für die Frauen in seinem Land einsetzen wird, für Aufklärungsarbeit und die ordentliche Strafverfolgung von Tätern sorgen wird, ist unklar. Beziehungen, Liebe und Sex - drei Dinge, über die die wenigsten Frauen in Kirgistan Macht haben. Und in dem System, in dem sie und die Menschen in ihrem Umfeld leben, auch nur schwer etwas dagegen unternehmen können - weshalb sie auf Hilfe angewiesen sind. Das Hilfsprojekt “Hilfe für Kirgistan” der Bayerischen Ortsgesellschaft e.V. hat 2011 das erste Frauenschutzhaus in Kirgistan eröffnet. Dort finden existenzbedrohende Frauen und ihre Kinder eine Unterkunft, Schutz und professionelle Beratung was Rechtsfragen angeht. 



Quellen:
https://www.hss.de/download/publications/AMEZ_9_Frauen_brauchen_Demokratie_08.pdf

https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/braeute-in-kirgistan-geraubt-vergewaltigt-beschimpft-1464498.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2

https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/316254/kirgisistan

https://taz.de/Femizide-in-Kirgistan/!5760728/

https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-report/kirgisistan-kirgisistan-2019#section-13744962

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