EinsamkeittrotzZweisamkeit


Über die krankmachende Einsamkeit

Ein Plädoyer für mehr Kollektivität 

Cyberliz | 16.12.21

Nie waren Menschen so allein und einsam wie heute.
Das wird jedes Jahr und das nachfolgende Jahr wieder zutreffen. Und das schlimmste dabei: Wir werden krank davon. Die Symptome bleiben oft unsichtbar, deshalb rackern wir uns weiter ab. Obwohl genau darin die Ursache liegt. 

“In keiner Epoche hat sich die Einsamkeit der Seele mit solch quälender Schärfe und Hartnäckigkeit fühlbar gemacht” – Diesen Satz schrieb Alexandra Kollontai im Jahr 1926 in der “Autobiographie einer sexuell emanzipierten Kommunistin”. Knapp 100 Jahre später lässt sich trotz unglaublicher Vernetzungsmöglichkeiten, Wohlstand und Wachstum im globalen Norden feststellen: Oh doch, Alexandra, Heute! Die Pandemie hat die Situation wohl nochmal verschärft, doch der Trend zeichnet sich seit geraumer Zeit ab. Das zeigen auch diverse Studien, wie die Bundesregierung bekannt gab: 

“Die Ergebnisse des Deutschen Alterssurveys 2020 (DEAS) zeigen: Im Sommer 2020 lag der Anteil einsamer Menschen im Alter von 46 bis 90 Jahren bei knapp 14 Prozent und damit 1,5-mal höher als 2017.” 

Doch die Einsamkeit ist zweifelsfrei kein Phänomen des Alters. Wie der tagesspiegel über eine Studie der aktuellen Bertelsmann-Stiftung berichtet, fühlen sich 61 Prozent der befragten Jugendlichen teilweise oder dauerhaft einsam. 64 Prozent stimmen zum Teil oder voll zu, psychisch belastet zu sein, heißt es in der Untersuchung. 

Wie dramatisch solche Ergebnisse sind, zeigt sich in den Auswirkungen. Nichts verkürzt die Lebensdauer so unbewusst wie das Isoliert- oder Alleinsein. Der Körper empfindet ähnlich wie bei anderen ungestillten Grundbedürfnissen Stress, das Immunsystem fährt herunter, chronische Erkrankungen und das Suchtverhalten werden begünstigt, wie eine Psychologin dem mdr erklärt. Wenn nach den Ursachen für die gestiegene Einsamkeit in einer Gesellschaft gesucht wird, richtet sich meistens der Blick auf die Einzelnen. Das EASE Stufenprogramm des amerikanischen Psychologen John Cacioppo gibt zum Beispiel Tipps, was jede:r gegen Einsamkeit tun könne. So wird auch immer wieder darauf eingegangen, welche Individuen eher dazu neigen, sich zu isolieren. Schnell ist hier die Rede von der Single-Falle. 


Wer nicht einsam sein will, muss eine:n perfekte:n Partner:in finden. Wer kennt es nicht: Nach einem harten, langen Arbeitstag möchte man als aller erstes Tinder runterladen und auf Partner:innensuche gehen - nicht. De facto herrscht in westlichen Nationen der Irrglaube, wenn du etwas nicht erreicht hast, dann warst du wohl einfach zu faul. Wenn du einsam bist, dann hättest du dich halt nur anstrengen müssen, neben deiner 40 Stunden Woche eine:n Partner:in zu finden, zu heiraten und dann eine Familie zu gründen. Möchte man aber verständlicherweise nach der Arbeit einfach nur abschalten, kommen direkt Schuldgefühle auf. Der soziale Druck ist wohl nirgends so groß, wie beim Nichtstun. 

Die Liebe nur auf den kleinen Kreis, auf das Private zu be-schränken, verfehlt die wesentliche Aufgabe einer Gesellschaft

Erich Fromm zeigt in seinen Werken ziemlich deutlich, dass wir in einer derart kranken Gesellschaft leben, die uns aufgrund des Leistungsdrucks verwehrt, die Einsamkeit langfristig zu überwinden. Denn “unsere gesamte Energie verwenden wir darauf zu lernen, wie wir (ökonomische) Ziele erreichen, und wir bemühen uns so gut wie überhaupt nicht darum, die Kunst des Liebens zu erlernen.” Abgesehen davon, dass wir in diesem System ständig gefordert sind und uns wenig Zeit bleibt für Privates, kommt hier noch hinzu, dass wir die Liebe exklusiv denken. Unser Wert der Liebe wird nur darüber definiert, dass wir diese:n eine:n Partner:in finden. Im Idealfall wird diese Beziehung in einer kleinbürgerlichen Familie zusammengeführt. Als ich vor kurzem mit meinen Neffen auf einer Bank auf dem Spielplatz saß, beobachtete ich, wie ein Kind von der Schaukel fiel. Ein anderes verletzte sich, als es auf die Knie stürzte. Und zwei weitere Kinder stritten sich um ein Spielzeug. Doch was mir im Wesentlichen auffiel: Alle Eltern kümmerten sich ausschließlich um die eigenen Kinder, selbst wenn die der anderen nicht in Reichweite waren. Und ich fragte mich: Was ist eigentlich mit denen, die niemanden haben, der sich für sie verantwortlich fühlt? 


Die Liebe nur auf den kleinen Kreis, auf das Private zu beschränken, verfehlt die wesentliche Aufgabe einer Gesellschaft: Die Solidarität und Fürsorge im Miteinander. Personen, die diese Kleingruppe nicht haben, die auf Parship, Tinder und Co, im stressigen Alltag nicht ihren „ Deckel zum Topf“ gefunden haben, diese bleiben alleine, weil sie in einer individualisierten Gesellschaft zurückgelassen werden. Auf diese Entwicklung gibt es Antworten. Unsere Psyche ist weitaus besser erforscht, als man denkt. In einer Studie von Luhmann und Louise C. Hawkley aus dem Jahr 2016 heißt es:
„Ein höherer Grad an sozialer Einbindung – sich mit Freunden und Verwandten zu treffen, Teil von sozialen Gruppen zu sein, in die Kirche zu gehen und ehrenamtlich aktiv zu sein – wird von der Kindheit bis ins hohe Alter mit einem geringen Grad an Einsamkeit verbunden.“ Hier wird auf den wesentlichen Faktor zur Überwindung der Einsamkeit hingewiesen: das Kommunale, die Gemeinschaft.

Wir wissen, was Menschen für ein glückliches Leben brauchen. Und doch werden heute selbst die Bedürfnisse der Liebe, Zuneigung und Anerkennung verwertet. Die Liebe wird zur Tauschware und nicht zu einem alltäglichen, durchaus hoch komplexen Akt des Handelns und Seins. Auch eine kurzzeitige Bestätigung durch schnelle Sex-Dates in der Hook-Up-Culture, sowie der geringe Aufwand für die sexuelle Befriedigung befreien uns nicht tatsächlich von der Einsamkeit. Ganz im Gegenteil, so können wir nur super schnell und effizient wieder zu unserem stressigen Alltag zurückkehren. 


Die Autorin Kristin R. Ghodsee geht in ihrem Buch “Why we have better sex under socialism” explizit auf die systemischen Faktoren ein und legt sehr überzeugend dar, dass die Produktionsverhältnisse unsere Lebensweise und unsere Liebesbeziehungen bestimmen. Sie argumentiert: Um sich selbst von der Einsamkeit und den Erwartungen an die Liebe zu lösen, muss man sie viel breiter sehen, als nur bei sich oder im engsten Kreis. Diese breite Auffassung kann man auf Demos gegen die Klimakatastrophe, in einer Organisation, in Streiks, in kollektiven Bündnissen aller Art wiederfinden. Weniger der eigene Erfolg als vielmehr eine kollektiv gedachte Gesellschaft, in der kontinuierliches liebevolles Handeln im Miteinander die Maxime wird, können den Menschen aus der Einsamkeit befreien. 

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