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Europa im Dornröschenschlaf - der Siegeszug von rechtem Hass und Rhetorik

Lena | 18.10.2022

Wir haben uns an ein Europa gewöhnt, in dem wir ständig vor der Wahl des nächsten gefährlichen Rechtspopulisten stehen. Allein in den letzten Monaten wurden die ultrarechten Schwedendemokraten zweitstärkste Oppositionspartei, Marine Le Pen wurde erneut gerade so abgewendet, Giorgia Meloni gewann dafür umso deutlicher. Die Erklärungsversuche für diese Entwicklungen sind frappierend: Wenn hierzulande die AfD in Niedersachsen ihre Stimmen verdoppelt, liegt das der Berichterstattung zufolge an der Sorge und Unzufriedenheit der Wählenden, nicht etwa an ihren rassistischen und xenophoben Ressentiments. 

Ganz so, als befänden wir uns in einem kollektiven Dornröschenschlaf. Unbekümmert schlummern wir, während der Rechtspopulismus bedrohlich über uns schwebt, bis wir dann kurz vor der nächsten Wahl überrascht aufschrecken. Aufmerksame Zeitungsleser:innen werden für ein paar Tage über die jeweilige Parteienlandschaft aufgeklärt, ein paar Reden der Kandidat:innen werden  eingespielt. Und kurz darauf – egal, ob moderate Parteien die Wahl gerade so für sich entscheiden konnten (wie das Beispiel Le Pen zeigt), oder ein weiteres Land in die Hände von Rassisten und Neofaschisten fällt (wie im Fall der kürzlich gewählten Meloni) – vergisst man die Namen und Inhalte wieder.

Das kann ich ehrlicherweise niemandem verdenken, denn die Sätze aus den Mündern von Orbán, Trump, Merz und Weidel sind austauschbar. Und jetzt der laute Aufschrei: Merz sei doch nicht vergleichbar! Ist er nicht, aber er redet vergleichbar. Das zeigt sich etwa an seinem Vorwurf, ukrainische Geflüchtete würden Sozialtourismus” betreiben, den er nach heftiger Kritik und Scheinentschuldigungen zurückzog. Solche Rhetorik demokratischer rechter Parteien spielt in die Hände der Populisten. 

Sie alle verwenden die immer gleichen Botschaften und Floskeln mit länderspezifischem Lieblingssündenbock. Alle Personen, die von der Fiktion einer homogenen europäischen Nation abweichen, werden zur Projektionsfläche von Hass. So sind die Bilder des “jobstehlenden” und/oder sexuell übergriffigen Migranten Beispiele für gängige Bedrohungsszenarien. Das Ziel? Angst schüren. Der Erfolg von Rechtspopulisten hängt an ihrer Strategie, Scheinkrisen zu erfinden und bestehende Krisen weiter anzuheizen. Ihnen geht es nicht um demokratische Lösungsprozesse. 

Nach den Wahlen versinken wir wieder im Schlaf – unbekümmert und unberührt. Doch wir merken nicht, wie sich die rechtspopulistische Sprache mit all ihren Bildern und Narrativen klammheimlich in die Münder und Köpfe von Politiker:innen und in unsere eigenen eingeschlichen hat. Auch an diese neue Realität sind wir inzwischen gewöhnt. 

Was braucht es noch, damit wir endlich aufwachen? Der Aufstieg der Rechtspopulist:innen vollzieht sich nämlich keineswegs schleichend und unser dornröschenhaftes Schlummern ebnet den Weg für albtraumhafte Grenzverschiebungen: In den letzten zwei Jahrzehnten haben sie Parlamente, Koalitionen und Regierungen eingenommen und die Köpfe und Herzen der Menschen unterwandert. Hier geht es nämlich weniger um Fakten als um Emotionen. Die Soziologin Ruth Wodak fand in ihrer wegweisenden Forschung heraus, dass Rechtspopulisten vor allem Angst und Hoffnung für sich nutzen. Wie aber funktioniert das? 

Angst wird durch die Dämonisierung von Out-Groups erzeugt. Rechtspopulisten spalten unerwünschte Eigenschaften von der „eigenen“ Gruppe ab und projizieren diese auf Menschen außerhalb der Gruppe. Dabei reproduzieren sie rassistische Vorurteile, wie etwa Trump es tat, indem er mexikanische Migranten als “Vergewaltiger” und “Drogendealer” bezeichnete. Die eigene Gruppe dagegen bezeichnen sie als “hart-arbeitend” und “ehrlich”. Richtig brenzlig wird es, sobald eine nativistische Konzeption von Nation hinzugezogen wird. Nativismus ist eine Ideologie, nach der Staaten nur von Mitgliedern der vermeintlich gebürtigen Gruppe bewohnt werden sollen. Die Geburt bestimmt darüber, wer Teil der Nation ist. So galt in Deutschland bis 2000 ausschließlich das ius sanguinis - übersetzt “Recht des Blutes” - nach dem die Staatsangehörigkeit des Kindes über das Abstammungsprinzip, also die Staatsangehörigkeit der Eltern, bestimmt wird. 

Dabei gerät allzu oft in kollektive Vergessenheit, was Benedict Anderson in seiner berühmt gewordenen Definition von Nation feststellte: Sie ist eine vorgestellte politische Gemeinschaft, welche drei Imaginationsebenen einschließt: Begrenztheit, Gemeinschaft und Souveränität. Diese Definition hebt allem voran hervor, dass eine Nation nichts Naturgemäßes ist, sondern immer konstruiert wird. Sie ist nicht fest, sondern existiert erst dadurch, dass alle an sie glauben. Die Vorstellung einer Nation ist ein Gedankengerüst, das mit der nativistischen Ideologie für eine Politik des Hasses und des Ausschlusses missbraucht werden kann. Wird Nation als Kategorie der Abgrenzung und Abschottung gedacht, führt das dazu, dass nur bestimmte Körper in ihr einen Platz finden. 


Die Analyse des AfD-Wahlergebnisses in Niedersachsen zeigte deutlich, wie tief der Diskurs bereits unterwandert wurde: Die Sorgen und Ängste der Bürger:innen würden dazu führen, dass so viele ihr Kreuz bei den Rechtsextremen setzen. Gegen die unüberschaubaren Krisenherde hilft nur eines: Ein Retter, ein Messias, der eine bessere Welt in Aussicht stellt. Hier kommt die Hoffnung ins Spiel. Rechtspopulistische Anführer wie Trump oder Orbàn bieten diese, indem sie sich als Retter-Figur inszenieren. Sie versprechen, der vertrackten Situation ein Ende zu setzen und dem “Volk” auf diesem Weg Größe und Stolz zurückzugeben. Nichts anderes sagt der Slogan
Make America Great Again

Das Denken ist auf zwei klare und gegensätzliche Kategorien ausgelegt: „Wir“ gegen „Sie“, die „Nation“ gegen die „Invasoren“. Wird Nation als „Körper“ beschrieben, so gehört dazu auch die Anfälligkeit des Körpers für Parasiten oder Krankheiten. Das nutzt auch die sogenannte „White Replacement Theory“ für sich. Seit 2011 verübten Anhänger in ihrem Namen 160 Morde, unter anderem beim diesjährigen Buffalo Shooting. Sie verkörpert die Angst Weißer, dass „weiße Nationen“ durch eine globale Verschwörung systematisch ausgetauscht werden. 

Und diese immer gleichen Floskeln von Angst vor Migration und Hoffnung durch die Versprechungen der Neuen Rechten werden bis an den Esstisch an Familienfesten getragen. Meine Großtante empörte sich, deutsche Kinder würden ertrinken, weil der Staat seine Gelder nicht - wie gedacht - für Hallenbäder, sondern für Geflüchtete ausgibt. Das Mainstreaming rechtspopulistischer Rhetorik par excellence. 

Was macht diese oft als charismatisch beschriebenen Anführer so sympathisch und erfolgreich? Es ist vor allem die entflammende, Hass schürende Rhetorik, die sie sich auf perfide Weise zu eigen machen. Geschickt nutzen sie die Wut auf „Eliten“, indem sie tabubrechende Sprache verwenden. „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ ist der Kampfspruch der Neuen Rechten gegen die „Sprachpolizei“, wie sie neulich von Söder propagiert wurde. Beinahe unbemerkt vollziehen sich hier akrobatische Umkehrbewegungen: Lüge und Wahrheit vertauscht, einfache Lösungen für komplexe Probleme präsentiert, die Demokraten als autoritär und die Populisten als Stimme der „einfachen Leute“ stilisiert. 

Populisten sind allerdings keine Demokraten. In ihrer Vorstellung existiert eine „stille Mehrheit“, deren homogenen politischen Willen sie eine Stimme geben müssen. Demokratische Willenbildungs- und Entscheidungsprozesse sind überflüssig, wenn es schon eine politische Mehrheit mit einheitlichem Willen gibt. Es braucht keine Kompromisse, keine Diskussionen mehr. Als Konsequenz machen sich regierende Rechtspopulisten daran, demokratische Institutionen abzubauen. Ein Blick nach Ungarn genügt. Nichts Geringeres als unsere Demokratien stehen hier auf dem Spiel. Paradoxerweise verschlafen wir jedoch den Albtraum, der sich vor unseren verschlossenen Augen abspielt. 


Die Sprache von Rechtspopulisten ist von Grenzen durchzogen. Diese Grenzziehung entscheidet darüber, ob ein Individuum innerhalb oder außerhalb der imaginierten Nation platziert wird. Mit verheerenden Folgen: Denn was passiert mit einem Individuum, das auf einen Platz außerhalb der Nation verwiesen wird? 


Nicht nur die immer häufigeren Wahlerfolge von Rechtsextremen in unseren Nachbarländern sollten uns wachrütteln, wir müssen auch die bedrohliche Dynamik entlarven, in der sich die hasserfüllte und spalterische Sprache in unsere Gedanken und Münder schlängelt. Ansonsten werden wir die diskursive Oberhand an Antidemokraten verlieren. Es geht hier nämlich nicht „nur“ um Sprache, es geht auch nicht „nur“ um Identitätspolitik oder „linkes Gedöns“, es geht um etwas sehr real Spürbares. Doch scheinbar spüren wir es nicht. Diejenigen, die den Ausschluss am eigenen Leib erfahren, jedoch sehr wohl. 

 

Über den Wahlerfolg Melonis und die internationale Berichterstattung schreibt Karla in ihrer neusten Kolumne. 

Für weitere Lektüre: 

Kilomba, Grada: Plantation Memories. Episodes of Everyday Racism. Münster: Unrast Verlag 2020. 

Mouffe, Chantal: Agonistik. Die Welt politisch denken. Berlin: Suhrkamp Verlag 2014. 

Mudde, Cas: Populist radical right parties in Europe. Cambridge: Cambridge University Press 2007. 

Wodak, Ruth: The politics of fear. The shameless Normalization of Far-Right Discourse. Zweite Auflage, London/ California u. a.: Sage 2021.

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