FeatureAlkoholsucht

Wenn Mama trinkt – was meine Kindheit mit mir gemacht hat

 Anonym | 14.04.2021

TW: Alkoholismus, (psychische) Gewalt, Sucht


Rausch. Wie gerne möchte ich diesen Begriff mit etwas Positivem verbinden. Doch wenn ich das Wort höre, bleibt jedes Mal mein Herz für einen kurzen Moment stehen und ich erinnere mich an die schlimmste Zeit meines Lebens. An meine Mutter, an Alkohol, an Gewalt. Es ist komisch, dass ich dabei noch immer nicht an meine eigenen Rauschgefühle denke, vor allem nicht an die positiven, egal ob sie mit Alkohol zu tun haben oder nicht. Dieser dunkle Teil meiner Vergangenheit ist einfach da und lässt mich nicht los.

Eigentlich wollte ich überhaupt nicht über dieses Thema schreiben, doch ich weiß, es gibt so viele Menschen da draußen, die mit solch einer Vergangenheit leben müssen. Welch eine Ironie, dass ich mir zum Schreiben dieser Zeilen gerade ein Glas Weißwein eingeschenkt habe. Nicht, um mir Mut anzutrinken. Vielleicht habe ich es getan, um mir in Erinnerung zu rufen, was mir dieses Getränk, das es in Deutschland bereits ab 16 Jahren frei zu kaufen gibt, angetan hat.

 

Zuerst ein paar Zahlen

 

Laut NACOA Deutschland, der Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien e.V. leben in Deutschland ca. 2,65 Millionen Minderjährige bei alkoholkranken Eltern. Die deutsche Hauptstelle für Suchtfragen DHS berichtet, dass es in Deutschland etwa 1,6 Millionen Alkoholkranke und etwa 1,5-1,9 Millionen Medikamentenabhängige gibt. Die Anzahl der Menschen, die von illegalen Drogen abhängig sind, wird auf etwa 319000 geschätzt. 2017 war die Diagnose „Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol“ zweithäufigste Hauptdiagnose in Krankenhäusern.


Quellen:

https://www.dhs.de/suechte/alkohol/zahlen-daten-fakten

https://nacoa.de/infos/fakten/zahlen

Wie sehr hat der Alkoholismus meiner Mutter mein Leben beeinflusst?


Noch bin ich nicht bereit, über die Zeit zu sprechen, in der ich mitten in der Hölle leben musste. Doch heute möchte ich meine Erfahrungen über die Zeit danach berichten und wie es mir heute damit geht, denn auch wenn man schon erwachsen ist bzw. lange selbstständig lebt und viel Abstand gewinnen konnte, begleitet einen das Thema Alkoholismus und Gewalt immer weiter.

 

Etwas, was sich tief in mein Gehirn eingebrannt hat, ist der Blick meiner Mutter, wenn sie wieder einen ihrer „Ausraster“ hatte. Es ist ein Blick voller Hass, Abscheu, Verachtung. Warum mich dieser Blick auch im Nachhinein noch verfolgt? Nunja, ich bin ihre Tochter und habe daher rein biologisch auch ähnliche Gesichtsmerkmale. Viele Jahre habe ich mich daher vor meinem eigenen Spiegelbild erschrocken und das in ganz alltäglichen Situationen, wenn ich zum Beispiel an einem Schaufenster vorbeiging und sich mein Gesicht darin spiegelte. Zack, plötzlicher Flashback zu jenen Nächten, die eigentlich schon weit in meiner Vergangenheit lagen.

 

Wenn ich das Geld gehabt hätte, ich hätte mir sofort meine Nase operieren lassen. Ich hätte alles getan, meiner Mutter nicht mehr ähnlich zu sehen. Es ist als Teenager schon schwer genug, sich selbst so zu akzeptieren, wie man ist. Doch wie soll man sich je lieben lernen, wenn man sich jedes Mal vor seinem eigenen Spiegelbild erschrickt und schon als Minderjährige unter Angst- und Panikstörungen leidet? Woher soll man Hoffnung und Mut für die Zukunft schöpfen? Ganz ehrlich, ich weiß es nicht!

 

Natürlich könnte ich mich selbst belügen und behaupten: „die Zeit heilt alle Wunden“, doch so etwas zu denken, zerstört einen innerlich. Nein, tut sie nicht. Manche Narben bleiben ein Leben lang und reißen immer wieder auf, selbst wenn man denkt, man hätte endlich alles verarbeitet. Ja, ich hatte wirklich sehr gehofft, dass ich meine Kindheit und Jugend irgendwann zurücklassen und auslöschen kann. Doch es gibt eine Sache, vor der kann man nicht davonlaufen.

 

Das Leben ändert sich und man lernt ständig neue Menschen kennen. Dabei passiert es einfach, dass man immer wieder mit dem Thema Familie und in meiner Situation folglich auch Alkoholismus und Gewalt konfrontiert wird. Vor allem bei der Partnersuche ist man irgendwann an einem Punkt, an dem man über seine Vergangenheit und seine Familie sprechen muss, spätestens dann, wenn es darum geht, wie und wo man Weihnachten feiert.

 

Die psychische Gesundheit ist sehr wichtig und es sollte selbstverständlich sein, dass man sich Hilfe holt, wenn es einem nicht gut geht. Doch ab einem gewissen Punkt war es für mich schlimmer, weiter gegen meine negativen Gefühle anzukämpfen, als es einfach zu akzeptieren und zuzulassen. Es ist ganz normal, unglücklich zu sein, Angst zu haben, unsicher zu sein, krank zu sein. Ich habe mich damals sehr nach Beständigkeit und Sicherheit gesehnt, doch der krampfhafte Versuch, oder sagen wir besser Kampf, irgendwann glücklich zu sein, hat mich nur noch weiter ins Unglück gezogen.

 

Heute würde ich mich als einen glücklichen Menschen bezeichnen, auch wenn es mir nach wie vor hin und wieder passiert, dass ich nicht in Schaufenster blicken kann, ohne Herzrasen zu bekommen oder es mir um Feiertage wie Weihnachten oder Ostern oft nicht gut geht, da ich an meine Mutter und dadurch auch an ihre Alkoholsucht und Gewaltausbrüche denken muss. Allerdings akzeptiere ich meine Vergangenheit und damit einhergehenden Gefühle, kämpfe nicht mehr dagegen an, denn sie sind nunmal da und gebe jedem den Raum, den es gerade braucht. Ich habe nunmal dieses Päckchen zu tragen.

 

Ich bin sehr dankbar, Menschen gefunden zu haben, denen ich mich anvertrauen kann, wenn es mir schlecht geht, ich an mir zweifle und mir meine Vergangenheit zu schaffen macht.


Kennst du Kinder, die bei suchtkranken Eltern aufwachsen müssen und weißt nicht, wie du darauf reagieren sollst? Die DHS hat ein Suchthilfeverzeichnis, worin man eine passende Beratungsstelle finden kann.

https://www.dhs.de/service/suchthilfeverzeichnis

Auch Nacoa bietet eine anonyme Beratung bezüglich Kinder suchtkranker Eltern an.

https://beratung-nacoa.beranet.info/

 

Für Kinder ist es besonders schwer, Entscheidungen gegen die Eltern zu treffen und Hilfe zu suchen. Oft wird einem nicht geglaubt, vor allem wenn es sich um die Mutter handelt, da sich kaum ein Mensch vorstellen kann, dass eine Mutter zu Gewalt gegen das eigene Kind fähig ist. Zudem weiß kaum ein Kind, wie und wo man Hilfe bekommt und traut sich einfach nicht aus Angst vor den Konsequenzen, wenn die Eltern davon erfahren. Minderjährige sind auf Hilfe von außen angewiesen, also nicht wegsehen, sondern informieren und helfen.

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