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Feministische Medizin - was ist das?

Petra | 15.03.2022

Unsere Autorin Petra hat sich damit beschäftigt, wie feministische Medizin aussieht. Ein Interview mit Sina und Rebekka von Feministische Medizin e. V.

Liebe Sina, liebe Rebekka,

Euer Verein Feministische Medizin e. V. tritt für Intersektionalen Feminismus in der Medizin ein. Was bedeutet das und wie kamt Ihr auf die Idee, euren Verein zu gründen? 


Die Idee entstand im Frühjahr 2019. Mit Blick auf den Feministischen Juristinnentag haben wir uns eine solche Veranstaltung auch innerhalb des konservativen Fachbereichs Medizin gewünscht. Aus der Veranstaltungsidee ist dann schnell der Gedanke des Vereins gewachsen. Inzwischen engagieren sich etwa 30 Menschen aktiv im Verein.


Wir sind der Überzeugung, dass im Gesundheitswesen tätige Personen eine politische Verantwortung tragen. Insbesondere Ärzt*innen sollten sich ihrer Privilegien bewusst sein und diese reflektieren. Feminismus in der Medizin ist dabei natürlich absolut nicht neu. So hat sich bereits in den 70er Jahren die Frauengesundheitsbewegung entwickelt. Auch der Arbeitskreis Frauengesundheit ist zu nennen, der 1993 gegründet wurde. Es gibt zahlreiche äußerst engagierte Hochschulgruppen, die Geschlechtergerechtigkeit an ihren Universitäten vorantreiben, sowie verschiedene feministische Vereine wie etwa Doctors for Choice. Uns war es dabei wichtig, einen intersektionalen Ansatz zu vertreten, also das Zusammenspiel verschiedener Diskriminierungsmechanismen zu beleuchten - und so den veralteten Strukturen in medizinischer Lehre und Praxis etwas entgegenzusetzen. Zusätzlich wollen wir einen Safer Space für FLINTA* im medizinischen Bereich aufbauen.

 
Gesundheit ist politisch und der Verein Feministische Medizin e. V. setzt sich auf politischer Ebene für feministische Themen aus medizinischer Sicht ein. Dazu gehören auch die Bereiche Schwangerschaft und Geburt. Was, würdest Du sagen, sind für Frauen die größten (Versorgungs-)Probleme in dieser risikobehafteten Zeit für die eigene Gesundheit und die des Kindes?


Eines der wohl größten Probleme der Geburtshilfe in Deutschland stellt die nun schon über Jahre andauernde und fortschreitende Schließung von Geburtskliniken dar. So müssen immer mehr schwangere Personen, insbesondere im ländlichen Bereich, in Notfällen sowie zur Geburt lange Wege auf sich nehmen. Dazu kommt der permanente Hebammenmangel, durch den eine 1:1 Betreuung, wie sie auch in der aktuellen S3-Leitlinie zur vaginalen Geburt empfohlen wird, häufig nicht gewährleistet werden kann. Die Streichung der Hebammen aus dem Pflegebudget konnte letztes Jahr auch Dank einer Petition, die 1,6 Millionen Menschen unterzeichneten, erfreulicherweise abgewendet werden. Das zeigt, dass das Bewusstsein innerhalb der Bevölkerung bzgl. dieser Problematik wächst.

Ganz aktuell ist außerdem der Pflegemangel auf den Neugeborenen-Intensivstationen zu nennen. Neben der dadurch bedingten weniger intensiven Betreuung der Patient*innen führt die Sperrung von Betten zu Verlegungen der Neugeborenen und somit häufig zu einer (glücklicherweise meist zeitlich begrenzten) Trennung von Eltern und Kind. 


Die Besuchsbeschränkungen während der Coronapandemie führen außerdem zu einer hohen emotionalen Belastung der Schwangeren bzw. Wöchner*innen. Insbesondere Schwangere, die aus unterschiedlichen Gründen die Zeit vor der Geburt im Krankenhaus verbringen mussten (bspw. bei Wehentätigkeit in einer frühen Woche, Cervixverkürzung oder vaginaler Blutung) litten sehr darunter.



Habt Ihr in Eurem Verein auch mit konkreten Fällen zu tun, in denen sich Frauen mit der Bitte um Hilfe oder Rat an Euch wenden?


Es wenden sich immer wieder Personen mit konkreten Anliegen an uns. Da wir im Verein über fächerübergreifende Expertise verfügen, können wir bei vielen Fragen das kollektive Schwarmwissen aktivieren und Lösungsansätze bieten, jedoch bieten wir keine medizinische Hilfe an sondern leiten an behandelnde Fachärzt*innen weiter. Bei Bitte nach Empfehlung eine*r Fachärzt*in verweisen wir auch auf Gynformation und Queermed. Häufig handelt es sich allerdings auch um rechtliche Fragen bei Behandlungsfehlern. Da wir keine Expert*innen des Medizinrechts sind, versuchen wir dann Empfehlungen bzgl. möglicher Anlaufstellen zu geben. 


Wo liegen in der Praxis (in Geburtskliniken, Praxen etc.) die größten Hürden für eine bessere Geburtshilfe?

Aus intersektional-feministischer Sicht mangelt es bei den meisten Beschäftigten in der Geburtshilfe an Sensibilität bzgl. verschiedener Diskriminierungsformen. So ist im klinischen Alltag leider noch immer ein hohes Maß an rassistischen Vorurteilen zu beobachten. Studien, insbesondere aus den USA, zeigen immer wieder, wie diese Vorurteile zu einer schlechteren Versorgung der Schwangeren und letztendlich zu einer höheren Rate an schlechten Outcomes (bis hin zu einer erhöhten Sterblichkeit der betroffenen Schwangeren und Neugeborenen) führen. Es gibt zu wenig Weiterbildungsangebote, um Teams zu sensibilisieren und Betroffenen eine Stimme zu geben.
Da die Medizin und somit ebenfalls die Geburtshilfe auch heute noch äußerst konservativ geprägt ist, wundert es zudem nicht, dass es kaum Bewusstsein für queere Identitäten und deren Schwangerschaftsverläufe gibt. Wenn es auf der einen Seite an Akzeptanz und auf der anderen Seite dadurch bedingt an Vertrauen fehlt, werden Schwangerschaft und Geburt natürlich häufiger als negativ bis hin zu traumatisierend empfunden - unabhängig davon, ob auf dem Papier aus medizinischer Sicht alles genau so verlaufen ist, wie bei einer schwangeren cis-Frau. Hervorzuheben ist in diesem Bereich die Arbeit des queerfeministischen Hebammen*kollektivs Cocoon aus Berlin, das 2019 gegründet wurde.
Eine weitere Problematik, die im klinischen Alltag häufig ausgeklammert wird, ist, dass etwa jede 5. Person im Wochenbett eine psychische Erkrankung hat und Suizid die häufigste Todesursache des austragenden Elternteils innerhalb des ersten Jahres nach Geburt darstellt. Dies stellt sowohl eine medizinische als auch gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar: zu der bereits bestehenden und andauernden Stigmatisierung psychischer Erkrankungen kommen in dieser Phase die von Außen formulierten hohen Ansprüche an das Eltern-Sein, die ein Reden über psychische Symptome zusätzlich erschweren. Hier spielt auch wieder der Hebammenmangel eine Rolle, da leider nicht alle Wöchner*innen in der sensiblen Phase des Wochenbettes mit einem Neugeborenen und darüber hinaus adäquat betreut werden können. Nicht zu vergessen ist auch die unzureichende individuelle Versorgung von Schwangeren mit Behinderung. Es erfordert mehr zeitlichen Aufwand und Sensibilisierung, um den Betroffenen eine nach ihren Bedürfnissen ausgerichtete Geburtshilfe und adäquate Versorgung zu gewährleisten. 

Gerade wurde eine Petition gegen die geplante Streichung der Hebammen aus dem Pflegebudget an das Gesundheitsministerium übermittelt. Mit Erfolg: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach lenkte ein.


Welche politischen Stellschrauben müssten darüber hinaus neu justiert werden, um Frauen und (werdenden) Müttern mehr (Rechts-) Sicherheit für die Zeit der Schwangerschaft und Geburt bzw. auch im Wochenbett zu garantieren?

Zum einen fallen uns konkrete Dinge ein, die aktuell gefordert werden und die wir unterstützen, zum Beispiel:


  • die Möglichkeit einer Inanspruchnahme des Mutterschutzes auch nach Fehlgeburten in frühen Schwangerschaftswochen
  • eine bessere Vergütung in der Geburtshilfe 
  • mehr Anreize für Hebammen, in der Klinik tätig zu sein.


Jedoch brauchen wir auch auf struktureller politischer Ebene mehr Gehör für die Themen der Geburtshilfe und Gynäkologie. Hierzu benötigen wir mehr betroffene Personen in den entsprechenden politischen Ämtern - also explizit mehr FLINTA*.


Wo gibt es aus Eurer Sicht einen verstärkten Bedarf für Beratungs- und Anlaufstellen für Frauen?


Ja, den gibt es in vielen Bereichen. Hier einige Beispiele:


  • Es sollte mehr Orte und Praxen geben, die die notwendige Beratung vor einem Schwangerschaftsabbruch durchführen. Dies ist für Schwangere teilweise nur zu gewährleisten, wenn sie weite Wege auf sich nehmen – unabhängig davon, dass die den Schwangerschaftsabbruch ausführende Praxis/Klinik möglicherweise noch weiter entfernt ist.
  • Im Rahmen der Reproduktionsmedizin wäre es wünschenswert, wenn sich mehr Zentren auf die Belange queerer und alternativer Familienmodelle spezialisieren würden.
  • Aus gynäkologischer Sicht wären zudem mehr Anlaufstellen für Endometriose-Betroffene wünschenswert, eine Erkrankung, die in Lehre und Forschung viel zu lange ignoriert wurde, in Deutschland jedoch Schätzungen zufolge etwa 2 Millionen Menschen mit Uterus betrifft und häufig mit einer hohen psychischen Belastung einher geht. 
  • Generell sollte es mehr barrierefreie Praxen und Beratungsstellen geben - aktuell sind in Deutschland gerade mal 26% barrierearm!
  • Wie toll wären darüber hinaus barrierefreie Anlaufstellen, an die Betroffene im Gesundheitssystem erfahrene Diskriminierungen melden können und ggf. direkt psychologische Unterstützung erhalten könnten?


Wo seht Ihr sonst noch großes Potenzial in der Frauengesundheit, für die Euer Verein sich stark macht?


Wir setzen uns explizit nicht nur für Frauengesundheit ein, sondern fordern eine geschlechtersensible Medizin, die bisherige Inhalte kritisch hinterfragt und neu ausrichtet. Das bedeutet vor allem Tabus, Vorurteile, Geschlechter- und Körpernormen aufzubrechen. Wir fordern einen fairen, bedingungslosen Zugang zum Gesundheitssystem für alle – unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung, Aussehen, Herkunft, körperlichen oder emotionalen Fähigkeiten etc. Dazu wird bereits in der Ausbildungszeit der Gesundheitsberufe ein Fokus z.B. auf diskriminierungssensible Medizin als fester Bestandteil des Kerncurriculums der Lehre benötigt.


Wir bedanken uns herzlich für das Interview!

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