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Flagge hissen oder besser wissen

Leni Kohlfürst | 05.05.2022

Schwarz waren die Uniformen in den Befreiungskriegen 1815. Rot die Aufschläge am unteren Ende des Ärmels. Gold sollen die Knöpfe gewesen sein.


Am Anfang ist lautes Gehupe. Es ist Freitagnachmittag in Wien und ich habe das Glück, zum wiederholten Mal aus Versehen in einen Autokorso zu geraten und plötzlich umgeben zu sein von Rot-Weiß-Rot. Ich höre, wie die Regierung durch Megafone kritisiert und beleidigt wird und ich frage meine Begleitung: „Warum nehmen die eigentlich die Nationalflagge, die für den Staat steht, um gegen diesen Staat zu protestieren?“ Wir finden keine Antwort, aber das Thema lässt mich nicht mehr los. Wofür steht diese Flagge eigentlich?

Auf der Suche habe ich mit den unterschiedlichsten Menschen geredet: Anarchist:innen, Menschen mit Einwanderungsgeschichte, einem ehemaligen Soldaten und einem selbsternannten „Flaggenenthusiasten“, ich habe Artikel und Unitexte gelesen und musste feststellen, dass dem Flaggenthema unverzichtbar das Thema Identität zugrunde liegt. Ich habe mich in dem Thema Identität verloren, Seiten über Seiten geschrieben und bin zurückgekehrt zum Thema Nationalflaggen. Meine Gedanken zu Identität werde ich zu einem anderen Zeitpunkt mit euch teilen.

Die Idee für diesen Text hatte ich zwar angesichts der Österreichflagge, es soll sich aber hier eher um die deutsche Nationalflagge drehen, da in Deutschland die Diskussion um besagten Stofffetzen deutlich größer ist.

Die deutsche Nationalflagge ist mehr als eine fragwürdig ästhetische Kombination von drei Farben. Wer ich die Deutschlandflagge hisst, zeigt Nationalstolz. Und warum auch nicht stolz sein auf diesen Staat, in dem wir so sicher und gut leben, in dem wir krankenversichert sind und eine Demokratie haben? Ich will nicht einmal darauf eingehen, dass nicht alle Menschen in Deutschland sicher und gut leben. Selbst wenn das alle täten, können wir an diesem Argument gut rütteln. Dabei hilft mir Horst Stowasser, Anarchist und Autor in „Anarchie!“, aus dem mir eine Freundin einen Ausschnitt geschickt hat, als ich von meinem Thema erzählte:

„In der Tat gibt es keine einzige Dienstleistung des modernen Staates, die spezifisch staatlich wäre. In Wirklichkeit hat sich der Staat im Laufe der Jahrhunderte eine ganze Latte positiver gesellschaftlicher Errungenschaften schlicht unter den Nagel gerissen. Nicht eine davon ist wirklich mit dem Prinzip der Staatlichkeit verknüpft […]. Angefangen von der Post über die Eisenbahn, Krankenhäuser, Straßen- und Städtebau, Universitäten und Schulen bis hin zu Rentenversorgung, Altersversicherung und Arbeitslosenunterstützung gibt der Staat die Verantwortung für Bereiche zurück, die er sich irgendwann dort angeeignet hat, wo sie entstanden sind: in der Gesellschaft. Denn alle diese Einrichtungen haben sich dereinst unabhängig von Königen, Kaisern oder Regierungen entwickelt - aus der gesellschaftlichen Kreativität der Menschen. Aber Gesellschaft ist nicht gleich Staat.“ (Stowasser 2007, 35ff)

Stowasser argumentiert also, dass es gar keinen Sinn ergibt auf den Staat stolz zu sein, weil er vielen von uns so ein gutes Leben ermöglicht. Viel eher müssten wir auf die Gesellschaft stolz sein. Aber wer ist diese Gesellschaft jetzt wieder?

Die „Gesellschaft“, der wir von Stowasser so betitelte „Errungenschaften“ zu verdanken haben, kam aus einer ganze anderen Ecke als die Menschen, die heute diese Flagge schwenken. Hier musste ich an das Buch „Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben“ denken, in dem Kristen R. Ghodsee schreibt: „Auch wenn wenige Deutsche ihr Wirtschaftssystem heute als ‚sozialistisch‘ beschreiben würden, darf man nicht vergessen, dass es der Sozialismus war, der die Sozialgesetzgebung hervorbrachte. Nicht nur weil viele Sozialversicherungen zuerst von Theoretikern entwickelt wurden, die sich selbst als ‚Sozialisten‘ bezeichneten, sondern weil es die Angst Bismarcks vor der Arbeiterbewegung war, die den Deutschen das Kranken- und Rentenversicherungssystem bescherte, von dem sie bis heute profitieren.“ (Ghodsee 2019, 19f).

Einige Menschen verteidigen die Trikolore, indem sie ein eigenes Verständnis davon anführen, wen oder was diese repräsentiert. Sie behaupten, die Flagge stünde für die Menschen, - erneut - die Gesellschaft, das „Volk“ – nicht für den Staat und versuchen somit, den mitschwingenden Nationalismus zu leugnen. Aber welche (deutsche) Gesellschaft soll das sein, wenn sich so viele in Deutschland lebende Menschen nicht mit dieser Flagge identifizieren wollen? Oder nicht gelassen werden? Wer sagt, dass die Flagge für unsere Gesellschaft steht, der*die sieht in dieser Gesellschaft eine Homogenität, die schlichtweg nicht vorhanden ist. Die Flagge steht vielleicht für eine Gemeinsamkeit von Menschen. Aber meistens viel wichtiger: für das, was sie von anderen unterscheidet.

Denn darauf kommt es an bei Identität: „Es gibt keine Identität ohne Alterität. […] Eine selbstreferentielle Identität existiert nicht, weder für Individuen oder Gruppen noch für Regionen.“ Das schreibt der Historiker Holm Sundhaussen in einem Text, in dem es eigentlich um die Abgrenzung des Balkans geht, aber ich halte die Aussage für universell anwendbar. Sundhaussen behauptet also, Identitätsbildung finde durch Andersartigkeit (Alterität), also die Verschiedenheit vom „Anderen“ statt, was immer das „Andere“ sein mag. Damit sei Identität nie auf sich selbst bezogen, also nicht selbstreferentiell – es braucht diese „Anderen“. Kein Mensch kann mir erzählen, dass er, gerade wenn wir uns anschauen, in welchen Kontexten diese Flagge verwendet wurde und wird, diese nur mit einem naiven Wunsch nach Gemeinschaftsgefühl trägt. Ich behaupte, wer seiner nationalen Identität und somit seiner Herkunft so viel Bedeutung beimisst, der misst auch der Herkunft anderer Menschen zu viel Bedeutung bei.

Journalistin und Autorin Şeyda Kurt schreibt in einem Artikel: „Diese weiße Mehrheitsgesellschaft hat es nicht hinbekommen, der Fahne eine gesamtgesellschaftlich positive Bedeutung zuzuschreiben. Das liegt möglicherweise daran, dass eine Nationalflagge schon von sich aus ein nationalistisches und problematisches Konstrukt ist: Es soll ein Wir symbolisieren und repräsentieren. Wer ist dieses Wir? Ich kenne viele, die sich dem nicht zugehörig fühlen, und das nicht unbedingt freiwillig.“ Und auf das Argument, dass die linke Szene das Symbol nicht einfach den Rechten überlassen darf, erwidert sie: „Vielleicht hat sich die AfD nicht ein angeblich wichtiges Symbol angeeignet, sondern die Fahne hat sich ihre Verteidiger*innen gesucht. Und gefunden.“ Die AfD hat nicht willkürlich diese Fahne gewählt. Sie hätten auch Gaulands Hundekrawatte nehmen können, die wäre fast hübscher. Haben sie aber nicht, weil sie wissen, welche Bedeutung hinter dieser Fahne steht.

Auch Grünen-Politiker Robert Habeck hat einmal von „Fahnen für alle“ gesprochen und behauptet, die Fahne der Bundesrepublik stände „im Kern für die Ideen des Grundgesetzes“ – inklusive Asylrecht, Pressefreiheit, Menschenwürde und so weiter. Erneut: nein. Die Fahne der Bundesrepublik steht für die Bundesrepublik. Sie hat nicht einmal so eine inspirierende Geschichte wie andere Nationalflaggen. Warum sollten wir versuchen, eine Farbkombi, die den AfD-Fanshop und Querdenken-Demos schmückt, wieder positiv besetzen? Diese Flagge war niemals positiv besetzt. Nein, auch nicht bei der Fußball-WM 2006. Zu diesem damals wiederentdeckten sogenannten „Party-Patriotismus“ sagt Publizist und Lyriker Max Czollek in „Desintegriert euch!“:

„Was mich damals überraschte, war die Rhetorik, mit der der schwarz-rot-goldene Rausch nahezu unwidersprochen als kollektive Entlastung gefeiert wurde. […] Damals wie heute glaube ich, dass diese neugefundene Identifikation mit der Nation viel über diejenigen aussagte, die dieses Begehren verspürten. […] 2006 verhielten sich die Menschen, als würden sie eine lang getragene schwere Last abschütteln. ´Endlich dürfen wir wieder‘, riefen sie […] Wer endlich sagt, der ist erleichtert, dass er etwas wieder darf. Wer wiederum wieder sagt, der verweist in unserem Fall auf eine Zeit, in der das Deutschlandfahnenschwingen noch ohne komische Gefühle möglich war. Wann war das nochmal genau? Richtig, Nationalsozialismus.“ (Czollek 2018, 37f)

Wenn ihr ein Symbol sucht, das wirklich für Offenheit und Menschenrechte steht, dann nehmt die Regenbogenflagge. Damit steht ihr mit Menschen, die ausgegrenzt werden, nicht mit solchen, die ausgrenzen. Sieht auch viel schöner aus.


Schwarz seh´ ich für die Zukunft der Nationalflagge. Rot ist mein Ärger über Menschen, die denken, die Nationalflagge wäre ein unbedenkliches Symbol. Gold ist der Stolz der Nazis, von dem wir uns alle abgrenzen müssen.

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