"Flamenco hat eine
ganz eigene Stärke und Eleganz"
Lilly | 26.11.2025 Foto: Kabelart
Natalia Chloé (27) ist Flamencotänzerin, Choreografin und Tanztrainerin aus München. Schon als Kind entdeckte sie ihre Leidenschaft für den Flamenco. Heute ist sie nicht nur als Tänzerin aktiv, sondern unterrichtet auch verschiedene Tanzstile – von Flamenco bis hin zu Hip-Hop und Shuffle Dance. Was diese konträren Tanzstile verbindet, wie sie zum Flamenco gekommen ist und welches feministische Potential dieser birgt, haben wir mit ihr im Interview besprochen.
Hallo Natalia! Wie bist du zum Tanzen gekommen?
Ich habe vermutlich ganz klassisch angefangen, wie viele Kinder: Meine Eltern haben mich zum Kindertanz angemeldet, die Tanzlehrerin hat von Beginn an Potenzial in mir gesehen und es hat sich abgezeichnet, dass ich ein gutes Rhythmusgefühl habe – so tanzte ich früh in den Gruppen der wesentlich älteren Kinder. Mit 8 Jahren habe ich dann Flamenco für mich entdeckt und mich so vom modernen Tanz hin zu einer strukturierten Tanzart orientiert.
War für dich damals schon klar, dass du professionell tanzen möchtest?
Nein, gar nicht, das war einfach ein Gefühl. Tatsächlich ist für mich bis heute noch nicht klar, ob ich es professionell machen will – obwohl ich es ja eigentlich mache. Nach dem Abi wollte ich mich nicht direkt für Tanz entscheiden, weil ich auch andere Interessen und Talente habe und meine Freund*innen ganz andere Dinge machen. Wäre ich von Freunden umgeben gewesen, die auch einen künstlerischen Weg in Erwägung gezogen hätten statt einem Studium, wäre es bestimmt anders gewesen. Ich hatte demnach auch nicht das Bedürfnis, aus München wegzuziehen, weil ich nicht irgendwo anders von vorne anfangen wollte. Daher habe ich meinen Lebensmittelpunkt so ausgerichtet, dass ich das Tanzen hier vor Ort weiter verfolgen kann.
Flamenco ist ja schon eine recht spezifische Tanzrichtung. Wie kam es dazu? Und wie fielen die Reaktionen darauf aus?
Meine Eltern hatten schon immer eine Begeisterung für Flamenco, haben sich folglich gefreut. Sie haben sich damals in Spanien kennengelernt, beide in Madrid gelebt und an einer Deutschen Schule gearbeitet, er Musiklehrer, sie Klavierlehrerin. Meine Mutter hatte damals schon einen Partner in Madrid, von dem sie auch einen Sohn hat – mein Bruder, der heute witzigerweise Flamencogitarrist ist und nach wie vor in Spanien lebt. Jedenfalls musste mein Vater dann aber beruflich nach München, weswegen sie noch vor meiner Geburt gemeinsam dorthin zurückgezogen sind.
Mit 8 Jahren hat mich mein Papa nach Madrid mitgenommen – dort habe ich dann zum ersten Mal eine Flamenco-Show in einem Tablao gesehen. Ich kann mich erinnern, dass ich eine Tänzerin total toll fand und das unbedingt lernen wollte, weswegen mein Papa gleich eine Lehrerin in München gefunden hat, bei der ich für immer geblieben bin.
Was die Reaktionen betrifft: Alle fanden es cool, trotzdem habe ich gemerkt, es ist nicht “normal” für ein Kind aus München, Flamenco zu tanzen. Für mich war das immer meine eigene Welt, etwas, das ich gut konnte, wo ich für mich sein konnte, was andere nicht verstanden haben. Ich habe erst später festgestellt, dass ich das bei Freund*innen kaum geäußert, sondern eher getrennt gehalten habe.
Ich habe aber bis heute eine Frustration darüber, dass andere Menschen die Tiefe und Begeisterung für den Flamenco nicht teilen, sie sagen dann: "Oh cool, ist das das mit den Kastagnetten?” Es ist frustrierend, dass andere die Leidenschaft nicht verstehen, es ist kein Zeitvertreib, es ist auch viel Arbeit.
Was, würdest du sagen, ist die Essenz von Flamenco?
Es gibt verschiedene Flamenco-Rhythmen, die ich irgendwie immer intuitiv verstanden habe – konnte das aber erst nicht benennen. Ich musste mir antrainieren, zu zählen oder auch in Worte zu fassen. Zum einen hat es eine Natürlichkeit, die man schwer beschreiben kann. Ich denke gerade an den ersten Moment, in dem ich Flamenco gesehen habe: Bis heute erinnere ich mich, dass ich nicht weggucken konnte von der Tänzerin. Nicht, weil sie besonders hübsch war, sondern weil sie eine wahnsinnige Ausstrahlung hatte. Die Art von Magie, die Flamenco erschafft – dafür gibt es auch einen Ausdruck, duende, was man wörtlich als “Dämon” übersetzt. Der taucht auf, wenn man durch künstlerischen Ausdruck – Gesang, Tanz etc. – etwas bei anderen erwirkt. Gefühle, die man nicht zuordnen kann, wo kommt das her? Es ist etwas Göttliches, das in einem nach außen transportiert wird, angeregt durch diese künstlerische Handlung. Dämon ist in diesem Falle nichts Negatives oder gar Ketzerisches wie ein Teufel, sondern genau das Gegenteil. Eine göttliche Erfahrung. Man saß zusammen in einer Gruppe und machte, was man fühlte.
"Durch das Leid und den Hunger sind Rhythmen, Tänze und Gesänge entstanden, die ohne Instrument funktionieren, die nur durch Klopfen und Klatschen begleitet wurden."
Du hast dich auch in einer wissenschaftlichen Arbeit mal mit der Geschichte von Flamenco beschäftigt. Kannst du etwas über die Entstehung und Rezeption erzählen?
Der Flamenco entstand auf den Straßen. Im 15. Jahrhundert kamen die Gitanos nach Andalusien und wurden seitdem immer wieder politisch verfolgt, wodurch sie sich immer mehr in ihre Barrios (dt. “Viertel”) und zu ihren Familien zurückgezogen haben. Durch das Leid und den Hunger sind Rhythmen, Tänze und Gesänge entstanden, die ohne Instrument funktionieren, die nur durch Klopfen und Klatschen begleitet wurden. Auf die Bühnen haben sie es nur aus kommerziellen Gründen geschafft. Es gab die Epoche der Cafés Cantantes um 1900, wo Spanier*innen Flamenco entdeckt und die Gitanos in Cafés gebracht haben, wodurch diese sich dort ein wenig Geld und Essen verdienen konnten. Dadurch kam die Kunstform in Umlauf und erlangte mehr Bekanntheit. Je mehr Leute das annahmen und Gefallen daran fanden, desto mehr wurde hinzugefügt: Kostüme und Accessoires zum einen, aber auch Instrumente. Flamenco wurde massentauglich gemacht. Reiche Leute nutzten die Gitanos, die auf das Geld angewiesen waren, für Unterhaltung aus, trotzdem blieben es im Grunde getrennte Lebenswelten.
Der Flamenco hat sich dadurch immer weiter auf die Bühne entwickelt, sich von seiner ursprünglichen Form abgespalten und breit aufgefächert. In verschiedenen Orten in Andalusien sind dadurch unterschiedliche Stile entstanden, unter unterschiedlichen Folklore-Einflüssen oder Tanzstilen darüber hinaus, wie etwa Ballett.
Was sind Klischees, die dir bezüglich Flamenco begegnen?
Viele Leute glauben, es sei ein Paar-Tanz, viele haben das Klischee “Rote Rosen, rote Kleider, erotische Frauen" im Kopf. Und Kastagnetten, die meisten kennen “diese Klapperdinger”. Dabei kommen die eigentlich gar nicht aus dem Flamenco selbst, es ist ein Folklore-Element, was irgendwann eingeflossen ist. Dadurch, dass Flamenco ein Überbegriff für so viele unterschiedliche Stile ist, kann man das gar nicht als eins zusammenfassen. Und es ist schlussendlich auch ein Spanienklischee.
Dass ich eine blonde weiße Frau bin, die Flamenco tanzt, wurde höchstens von Spanier*innen kommentiert, da ging es aber auch eher darum, dass ich zu dem Zeitpunkt noch kein Spanisch gesprochen habe. Das ist vielleicht auch ein Grund, warum ich gerne hierbleibe.
Ist kulturelle Aneignung dabei für dich ein Thema?
Nein. Der Tanz, wie ich ihn ausführe, bin einfach ich und ich tanze ihn so, seit ich klein bin. Das ist für mich kein Faschingskostüm in Form eines Flamenco-Kleides, das ich mal anziehe und so tue, als wäre ich Spanierin. Es geht um das Gefühl, die Musik, den Tanz – Tanz (wie auch Musik) ist ja eine Weltsprache. Natürlich hat sich der Stil dort entwickelt, ist aber das Ergebnis von vielen kulturellen Einflüssen, die zusammenkamen. Und wie es der Zufall will, spricht mich dieser Tanz – wie auch andere Tanzarten– besonders an, unabhängig von der Herkunft.
Wir hatten es schon von den Klischees, den “erotischen Frauen”. Welche Rolle spielen Frauen bzw. was ist denn tatsächlich das Frauenbild im Flamenco?
Sehr unterschiedlich. Das Erste, woran ich denke, ist aber Stärke. Flamenco hat eine ganz eigene Stärke und Eleganz, es ist überhaupt nicht sexualisiert. Personen aller Geschlechter kommen nach den Tänzen zu mir und sagen nicht etwa “hast du heute schon was vor?” sondern eher “es ist so toll, was du kannst" – das scheint auf alle gleichermaßen zu wirken.
Im 20. Jh., als die Rollen in den Tänzen noch stärker zugeordnet waren, revolutionierte die Tänzerin Carmen Amaya den Flamenco, in dem sie sich Hosen anzog und anspruchsvolle Fußarbeit machte, was bis dato den Männern vorbehalten war. Die Frauen haben zuvor immer vor allem schöne Hände gemacht und im Oberkörper gearbeitet. Die Männer hatten ursprünglich den “härteren” Teil inne, klare Linien, mehr Rhythmus und Fußarbeit.
Mit der Zeit lösten sich diese Rollenbilder auf und die Kunstform wurde zugänglicher, offen für neue Interpretations- und Herangehensweisen. So ging der Tänzer Manuel Liñán weltweit auf Tour mit einer Show namens VIVA!, in der männliche Tänzer in traditionellen spanischen Frauenkleidern performen.
„Die Tänzerin ist die Chefin, Solistin,
sie führt, anstatt sich
als 'Deko' oder Zierdeelement
der Musik beizumischen.“
Siehst du im Flamenco feministisches Potenzial?
Mir ist noch kein Tanz begegnet, wo Frauen so für sich stehen. Die Frau steht alleine, es gibt keinen Partner, sie ist kaum sexualisiert. Die Kunstform hat große Wirkung auf das Publikum, gerade wenn man die Blumen im Haar, die roten Lippen und andere kommerzialisierte Elemente außen vor lässt. Es geht hier weniger um Erotik als eben um Stärke und Temperament. Die Tänzerin ist die Chefin, Solistin, sie führt, anstatt sich als “Deko” oder Zierdeelement der Musik beizumischen. Es geht nicht um kommerzielle Gefälligkeit oder Perfektion, wie etwa beim Ballett, sondern um die Vermittlung von Emotion und Ausdruck. Auch lebt der Tanz von Improvisation, statt die immergleiche einstudierte Schrittfolge wiederzugeben.
Neben Flamenco arbeitest du aber auch mit Hiphop. Wie passt das denn zusammen?
Ich mag Tänze, die Wumms haben, die knallen. Ballett oder Modern wäre mir zu weich beispielsweise. Ich kann das nicht rational erklären, ich spüre das – ich vibe viel mehr mit Flamenco und Hiphop, wegen einer gewissen Rhythmik oder Melodie. Ich höre gar nicht auf Texte, es geht also weniger um Inhalte, sondern eher, wie ich die Sachen fühle.
Du hast Tanz vorhin als Weltsprache beschrieben. Theorien gehen davon aus, dass man in verschiedenen Sprachen unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale zeigt. Bist du dann immer jemand anderes?
100%. Wenn ich auf der Bühne tanze, zeigt sich eine ganz andere Seite von mir. Ich schlüpfe allgemein gerne in Rollen – wenn ich nicht sofort mit Tanz angefangen hätte, wäre ich vielleicht Schauspielerin geworden. Teilweise erkennen mich die Leute nicht und sagen, wie anders ich wirke im Vergleich zu sonst. Es geht in dem Moment der Aufführung nicht darum, so zu tanzen, wie ich bin, sondern Ausdruck zu transportieren und eine Atmosphäre zu schaffen, von der das Publikum begeistert ist. Im Unterricht erkennt man mich vielleicht eher, aber auf der Bühne ist es eine Rolle. Die wiederum ist aber auch Teil von mir, eine andere Art von mir, wie ich es gerade fühle. Wieder eine andere Seite ist dann eben Hiphop oder Shuffle. Es wird nie langweilig.
Vielen Dank für das Gespräch!
Weiterführende Literatur:
“The Cafés Cantantes and their role in the evolution of Flamenco”
Vollhardt, Anja (1988): Flamenco. Weingarten: Kunsterverlag Weingarten.
