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Alltagssexismus ist da - und er nervt


Stella | 04.03.21

Vermutlich jede Frau kennt es: Ist im Kino, im Theater, im Konzert oder bei ähnlichen Veranstaltungen Pause, dann stehen die Frauen sich vor den Toiletten die Beine in den Bauch und bekommen womöglich noch Stress, es wieder rechtzeitig in den Saal zu schaffen, während die Männer nebenan munter rein- und rausmarschieren. Nervig ist das auf jeden Fall, leider aber auch Standard. 

2019 wurde Caroline Criado Perez’ Buch Invisible Women. Exposing Data Bias in a World Designed for Men veröffentlicht. Die Autorin zählt dort diverse Beispiele (wie z.B. die Toilettensituation) auf, in denen Frauen von Sexismus betroffen sind - ob das jetzt durch vorsätzliche Diskriminierung im Sinne von sexueller Gewalt etc. ist, oder einfach darauf fußt, dass die Welt auf Männer ausgelegt und designed ist. Und diese Situationen finden sich überall, in allen Lebenslagen. 


Um nochmal kurz auf das Toilettenbeispiel zurückzukommen: Frauen brauchen durchschnittlich 2,3 mal so lange auf der Toilette wie Männer. (Quelle: Criado Perez, Caroline. Invisible Women. Exposing Data Bias in a World Designed for Men, London: Vintage, 2020, S. 48f.) Die Gründe dazu sind verschieden, von Periodenproduktwechsel über Kinderbegleitung bis hin zu häufiger auftretenden  Blasenentzündungen oder Schwangerschaftsblase. Der Zeitdruck entsteht, weil beim Toilettendesign solche Situationen nicht bedacht werden, die Männer nicht oder deutlich seltener betreffen. Das Ergebnis: keine dramatische, aber extrem nervige, zeitliche Benachteiligung beim Toilettenbesuch. 

Geht man einen Schritt weiter, ist nicht nur der Zeitdruck ein Problem bei Toiletten. Die generelle, weltweite Toilettenversorgung für Frauen ist schlecht. Wir können uns im Notfall nun mal nicht einfach an einen Baum stellen (nicht, dass alle Männer auch Wildpinkler wären, aber es geht um die generelle Möglichkeit). Frauen und Mädchen weltweit verbringen jährlich etwa 97 Milliarden Stunden damit, eine sichere Toilettenmöglichkeit zu suchen, sowohl im Sinne von hygienisch sicher als auch gewaltfrei. Und das ist schon weitaus ernster, als einfach nur Stress im Theater zu bekommen, weil die Pause endet. (Quelle: Invisible Women, S. 49) 


Aber auch in anderen Lebenslagen sind Frauen von Alltagssexismus betroffen. Das sogenannte
Yentl-Syndrom (Invisible Women, S. 217f.) beschreibt die Situation, dass Frauen bei ärztlichen Untersuchungen etc. umso weniger ernst genommen werden und umso häufiger Fehldiagnosen erhalten, je weniger ihre Symptome denen von Männern gleichen. 

Ein Beispiel, von dem ich sogar selbst betroffen bin: zyklusabhängige Beschwerden. Frauen wird diesbezüglich gerne gesagt, dass sie sich die Beschwerden einbilden, dass nichts sein kann, dass alles ok ist. Das Ergebnis bei mir, neuneinhalb Jahre nach Beginn der Symptome: schwere Endometriose und Adenomyose, eine chronische Krankheit, die unheilbar ist und sogar unfruchtbar machen kann, gerade auch wenn sie nicht erkannt wird (s. Text Endobittewas?). Und die Durchschnittszeit, die es bis zur Diagnose braucht, beträgt acht bis zehn Jahre (Invisible Women, S. 224). Das könnte wesentlich schneller gehen, wenn Frauen einfach mehr ernst genommen würden. 

Ein weiterer Fall von medizinischer Benachteiligung aufgrund des Yentl-Syndroms ist der Herzinfarkt. Das Bild, das vermutlich die meisten Leute beim Stichwort Herzinfarkt vor Augen haben, ist eine Person, die sich an die Brust greift, dazu kommen dann ein Engegefühl, Schmerzen im linken Arm… bei Männern. Bei Frauen sieht das meist ziemlich anders aus. Gerade bei jüngeren Frauen muss die Brust überhaupt nicht schmerzen, stattdessen ist der Herzinfarkt bei Frauen meist mit Bauchschmerzen, Kurzatmigkeit, Übelkeit und Erschöpfung verbunden. Und die Folgen sind fatal: Frauen haben eine 50% höhere Wahrscheinlichkeit als Männer, dass ein Herzinfarkt nicht erkannt wird. Das Ergebnis: eine höhere Todesrate. (Invisible Women, S. 218f.) Und das in einer Welt, in der aufgrund von medizinischem Fortschritt ein Herzinfarkt eigentlich auf keinen Fall den Tod bedeuten muss.

Meistens ist das aber nicht mal böswilliges und vorsätzliches Abtun, es ist internalisierter Sexismus, der selten hinterfragt oder überhaupt erkannt wird. Und das ist mindestens genauso schlimm. 


Dieser Sexismus zeigt sich wirklich praktisch überall. Sämtliche Situationen hier aufzuzählen, würde den Rahmen sprengen, aber eine recht schockierende Situation, der sich vermutlich die meisten Frauen regelmäßig bis zu täglich aussetzen, ist das Autofahren. 

Frauen haben ein um 47% höheres Risiko, bei einem Autounfall schwer verwundet zu werden, als Männer. Sie sterben auch um 17% wahrscheinlicher. Und das, obwohl Männer häufiger in Autounfälle verwickelt sind. 

Das liegt nicht etwa daran, dass Frauen sich nicht anschnallen würden oder schlechter Auto fahren. Es liegt daran, dass Autos für Männer designed sind. Frauen sind durchschnittlich kleiner, sitzen also weiter vorne, was aber nicht die “gedachte” Position ist. Im Regelfall sind sie auch leichter als Männer. Die häufigsten Crashtest-Dummies, mit denen das Auto getestet wird, sind 1,77m groß und wiegen 76kg, haben außerdem typisch männliche Muskel- und Wirbelsäulenstrukturen. Also nicht gerade die Durchschnittsfrau. Auch der Sitzgurt wird von den meisten Frauen “falsch” getragen, da meist irgendwie Brüste untergebracht werden müssen, was die Effektivität beeinträchtigt. Aber Muskelverteilung, Knochenstruktur und eben auch Größe, Gewicht, Sitzposition und Anschnallgurt sind nun mal signifikant dafür, wie der Körper im Falle des Unfalls reagiert.

„Es kann  nicht sein, dass die Welt auf eine Art Mensch ausgelegt ist, die nur knapp 50% der Population ausmacht.“

Die Statistik zeigt: Im Falle von Frauen reagiert der Körper nicht gut. Für schwangere Frauen ist es noch schlimmer: Es gibt keinen speziellen Sitzgurt und keinen Dummy für schwangere Frauen. Und das, obwohl Autounfälle die häufigste Ursache für den traumaabhängigen Tod eines ungeborenen Babys sind. 62% der Bäuche im dritten Trimester passen einfach nicht in den Standardgurt. (Invisible Women, S. 186-189.)


Alltagssexismus ist real und präsent. Es geht noch weiter, über Handys, die zu groß für die Standardfrauenhände sind, zu breite Klaviertastaturen, weshalb weniger Frauen Top-Pianistinnen werden als Männer, Sprachassistenzprogramme erkennen weibliche Stimmen schlechter als männliche, unbezahlte Care-Arbeit führt bei Frauen sieben Mal häufiger zu einem Wechsel von Vollzeit- zu Teilzeitarbeit, ergo weniger Einkommen (Invisible Women, S. 248) und eine Heirat mit einem Mann bedeutet für Frauen sieben Stunden mehr Arbeit im Haushalt wöchentlich (Invisible Women S. 73). 


Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, bis Gleichberechtigung erreicht wird. Die Situationen kann man jetzt als schlimm ansehen oder nicht, Fakt ist: es kann einfach nicht sein, dass die Welt auf eine Art Mensch ausgelegt ist, die nur knapp 50% der Population ausmacht und die andere Hälfte muss zusehen, wie sie damit klarkommt. Frauen sind keine Abweichung vom Proto-TYP! 

Quellen: Criado Perez, Caroline. Invisible Women, London: Vintage, 2020. 

Konrad, Sandra. Das beherrschte Geschlecht, München: Piper, 2018.

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