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Liebe - eine Kurzgeschichte

Lilly | 26.08.2021

Ich stehe vor dem Spiegel und ziehe mir einen Lidstrich. Ich blicke mir direkt in die Augen. “Du schaffst das”, murmle ich mir ins Gesicht, wobei ich mir ein wenig albern, aber irgendwie auch mächtig vorkomme. Ich sperre alle negativen Gedanken aus. Ich bin gut vorbereitet, ich kann mich auf mich verlassen, was soll also passieren? 

Meine Haare fallen lang über meine Schultern, im Kopf gehe ich noch einmal die Stücke durch, die ich gleich singen werde. Die Texte sitzen, das Kleid auch. 

Ich bin so konzentriert, dass die Toi-Toi-Tois meiner Familie fast an mir vorbeigehen, die sie über meine linke Schulter schicken. Ich atme tief durch. Leider kann ich der Nervosität dann doch nicht entkommen, sie lässt meinen Magen eng werden und verhindert eine ruhige Atmung. Das hasse ich. Wenn ich nicht so nervös wäre, könnte ich sicherlich mehr Leistung abrufen. Andererseits brauche ich sie ja auch, um die notwendige Energie aufzubringen. 

So, jetzt Kopf aus. Ich gehe aus dem Umkleideraum, wo Luca auf mich wartet. Er mustert mich von oben bis unten. “Schön siehst du aus!” Ich nicke angespannt. “Danke”.

Ihm entrutscht ein kurzes Lachen. “Du bist ja ganz nervös”. Er zieht mich zu sich heran und küsst mich, drückt mich ganz fest. Kurz lasse ich mich fallen, in seinen Geruch, seine liebevollen Berührungen, schließe die Augen und erwidere den Kuss. Dann löse ich mich aus seinem Griff und sehe ihm in die Augen. “So. Ich muss jetzt auf die Bühne”. 


Ich lure durch den Vorhang ins Publikum. Alle sind gekommen: Meine Familie, Luca, seine Freundin, Jasmin, neben ihm, meine Freund*innen Emilia, Lara und Linus. Ich lasse meinen Blick weiter durch die Reihen streifen. Ah, da hinten ist auch Kim. Und ganz vorne, am Rand, entdecke ich Elias, der sich gerade durch die Haare fährt. Ihn habe ich wirklich schon lange nicht mehr gesehen. Umso schöner, dass er es geschafft hat, vorbei zu kommen. Ich freue mich schon sehr darauf, mit allen gemeinsam später meinen Abschluss zu feiern. 


“Du warst wirklich fantastisch” ruft Lara, als ich später, bereits umgezogen, aus dem Gebäude trete. Alle warten schon auf mich. Jasmin und Luca, Hand in Hand, blicken mich freudig an. Zuerst umarme ich Emilia, die mir “Ich bin so stolz auf dich” ins Ohr flüstert. Ihr Baby, das sie gemeinsam mit ihrem Bruder und deren Freundin aufzieht, hat sie heute den anderen überlassen. Ich drücke ihr einen Kuss auf die Wange und bedanke mich. 

“Im Ernst, ich bekomme da immer so Gänsehaut. Gerade das letzte Stück, das hat mir besonders gut gefallen”. 

“Das hab ich tatsächlich ausgewählt, weil es mich an dich erinnert hat!” Sie lacht. 

“Wie schön, dass ihr da seid!” sage ich in die Runde, herze Lara und Linus. Danach umarme ich Jasmin, Luca bekommt von mir einen dicken Schmatzer. Kim kommt von hinten zu mir und gibt mir einen Klaps auf den Po. “Hey, bin ich auch mal dran?” Ich lasse mir extra Zeit, drehe mich um und tue so, als würde ich niemanden sehen. “Wer spricht?” Kim packt mich und dreht mich zu sich um. “Hey, sag mal!” Ich blicke Kim verschmitzt an, kann mir einen spielerischen Schulterklaps nicht verkneifen, dann versinken wir aber in einem Kuss. Kim beißt mir auf die Lippen, ich muss kichern. Als wir uns voneinander lösen, sehe ich, dass Elias ein bisschen abseits steht. 

“Wo gehen wir denn jetzt hin?” fragt Lara, die ein wenig zittert. Es ist Herbst geworden und sie trägt nur eine dünne Strumpfhose an den Beinen. 

“Ich wollte gerne ins Roxy’s” sage ich, bin aber mit meiner Aufmerksamkeit bei Elias, der auf mich zu warten scheint. “Geht schon mal vor, ich komme gleich. Der Tisch ist auf meinen Namen reserviert!” 


“Möchtest du auch noch mit?” frage ich, als ich bei Elias angekommen bin, obwohl ich die Antwort schon zu wissen glaube. Er schüttelt den Kopf. Das letzte Mal, als wir uns gesehen haben, waren wir in seinem Bett. Das ist allerdings auch schon wieder Jahre her. 

“Wie schön, dass du gekommen bist!” 

“Find ich auch. Gehen wir ein Stück?” 

Wir spazieren am Flussufer entlang, ein Weg, den wir früher, als wir noch gemeinsam studiert haben, oft gemeinsam gegangen sind. Ob im Sommer bei einem Eis, mit Fahrrädern und Musikbox, oder im Winter, in der nachmittäglichen Dämmerung, mit Glühwein. 

“Du bist wirklich der Wahnsinn”, sagt Elias in die sentimentale Stimmung hinein. Auch für mich geht dieser Lebensabschnitt nun zu Ende. “Deine Stimme...du hast dich auch echt krass entwickelt. Dir hat das Ausland glaub ich echt gut getan.”

“Danke! Ich glaub auch. Ich weiß jetzt noch viel sicherer, dass ich das unbedingt machen will. Und auch warum.” Er bleibt plötzlich stehen. Ich habe das starke Gefühl, seine Gedanken sind eigentlich schon wieder ganz woanders. Irgendetwas scheint ihn zu beschäftigen. 

“Was ist los?” reagiere ich auf seine nachdenkliche Miene. 

“Bist du mit Kim zusammen?” Ich muss fast ein bisschen lachen, weil ich mich schon gefragt hatte, ob das seine Frage sein würde, es nun aber irgendwie albern finde. 

“Naja, ja und nein, keine Ahnung.”

“Was soll denn das heißen?” 

“Na, ich liebe Kim. Wenn du das dann so nennen möchtest, gerne. Wir haben uns das allerdings nie gefragt. Was ändert es denn?”

“Ich weiß nicht, mir hat das schon immer etwas bedeutet.”

“Was, Labels?” 

“Quatsch, die Sache zwischen uns. Unsere Beziehung.”

“Ja, mir doch auch. Tut sie auch heute. Oder haben wir keine Beziehung mehr zueinander?” 

Elias rollt mit den Augen. “Du hast schon verstanden, was ich meine.” 

Anstatt mich auf diese Diskussion einzulassen, schlage ich eine andere Richtung ein. 

“Wie schön, dass du da bist. Das bedeutet mir wirklich viel. Du bedeutest mir viel.”

Bevor er etwas erwidern kann, drücke ich ihm meinen Mund auf seinen. Verdutzt stockt ihm kurz der Atem, dann lässt er sich darauf ein und öffnet seine Lippen. Knutschend fahren meine Hände durch seine Haare, seinen Hals entlang und schließlich seinen Körper hinab. Er schmeckt nach Sommer, nach Glühwein und heißen Nächten auf Parkbänken, in Partykellern und seiner Dachgeschosswohnung. Obwohl wir beide Jacken tragen, fühle ich mich ihm ganz nah. Es überkommt ihn, er drückt mich gegen die nächste Hauswand. Schwer atmend lassen wir die Erinnerung an die gemeinsame Zeit aufleben. 

“Können wir irgendwohin gehen?” 

“Mein Auto steht dort vorne”, keucht Elias und zieht mich noch ein Stück näher zu sich. 


“Da bist du ja!” ruft Luca, während Jasmin winkt. Es ist bestimmt eine Stunde vergangen, seit ich sie angewiesen habe, vor zu gehen. Linus und Lara sitzen dicht gedrängt in einer Ecke der vollgestopften Kneipe, während Kim und Emilia in eine hitzige Diskussion verwickelt zu sein scheinen. Jasmin steht auf und lässt mich zu Luca hineinrutschen, der mich an sich zieht und seinen Kopf auf meiner Schulter parkt. 

“Ihr hattet euch ja viel zu erzählen” neckt Jasmin und tauscht einen schelmischen Blick mit Luca. 

“Machen wir uns doch nichts vor” schaltet sich Kim plötzlich ein. “Die beiden hatten hemmungslosen Sex”. 

“Stimmt”, grinse ich, noch ganz euphorisiert von der aufregenden Wiederbegegnung mit Elias. “Und es war der Hammer.”   

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