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Let's talk about Sex! Schambefreit und sexpositiv

Kerstin | 14.04.2022

F*ck, wo habe ich mich hier hinein begeben?, durchfährt es mich siedend heiß am Tag vor der Podiumsdiskussion. Klar, ich schreibe über Feminismus und spreche auch in Podcasts von meinen persönlichen Erfahrungen. Aber einfach auf einer Bühne in einem Jugendzentrum über selbstbestimmte Sexualität zu reden, das ist trotzdem nochmal ein Schritt raus aus meiner Komfortzone.

Die Scham, die mich da überwältigt hat, zeigt: ich bin genauso auf der Entdeckungsreise wie alle andern. Ich bin nirgendwo angekommen, wo ich alles verstanden habe! Weder mich selbst und meine Identität, noch Beziehungen zu anderen, oder alle gesellschaftlichen Prozesse, die hinter der ganzen Sexualität stecken, wie wir sie aktuell immer noch überwiegend leben. Aber bei einer Sache bin ich mir trotzdem sicher: Ein offenes und nicht peinliches Gespräch über Sex in all seinen Formen ist die einzige Sache, was wirklich etwas verändern kann. Und um mich selbst und andere von dieser Scham zu befreien, musste ich mich selbst herausfordern und eben vielleicht auf einer Bühne über Sex reden. Schocktherapie gegen die Scham sozusagen, die auch in mir immer noch viel zu tief sitzt. Aber sie muss gehen. Denn nur ohne Scham können wir unsere Bedürfnisse, Wünsche und Grenzen endlich klarer kommunizieren! 

 Es gibt in unserer Welt heute kaum einen Weg, der Präsenz von Sex zu entkommen - oder zumindest der einen vorherrschenden Idee davon, wie er zu sein hat. Werbung, Medien, das Umfeld: früher oder später erfahren wir davon. Inzwischen eher früher als später. Aber schon das erste Gespräch oder darüber Kontakt damit geschieht meistens nicht selbstbestimmt: Denn Objektifizierung trifft FLINTA* Personen oft schon wahnsinnig früh. Das manifestiert sich in Catcalling von Kindern oder auch an Pornos, die enden, wenn die Bedürfnisse der Person mit Penis erfüllt sind. Da ist keine Rede von gemeinsamem Ausprobieren, miteinander lachen, Konsens und das sogenannte Vorspiel oder auch Aftercare werden kaum bis gar nicht thematisiert. Alle sind direkt bereit dafür, dass die Körper schnell aufeinander klatschen und der Mann sich nimmt, was er möchte und angeblich braucht. 

Aber was, wenn Kinder nur durch den Orgasmus von Personen mit Uterus gezeugt werden könnten? Dann wäre unsere Erde wahrscheinlich eher unter-, und nicht

überbevölkert. Der Fokus auf die männlichen Bedürfnisse zeigt sich auch am Anstieg der Präsenz von sogenannten “INCELS” - also “involuntarily celibates”. Männer die meinen, sie hätten einen “Anspruch” auf den weiblichen Körper, so wie auf Wasser oder Nahrung.

Seit der Feminismus mehr Anhänger*innen gewinnt, haben cis Männer Angst davor, einfach überflüssig zu werden. Das sieht man schon daran, dass Sex ohne Penis gar nicht als “echter Sex” gilt. Deshalb ist Mastrubation von Personen mit Vulva tabuisiert und queerer Sex erst recht! Diese Scham wurde uns antrainiert, damit wir uns von allem abgrenzen, was anders als die Vorlage ist und uns ja nach Schema F verhalten. Wenn wir den Default-Modus von Sex beschreiben wollen, dann sind wir so schnell damit fertig, wie die Mainstream-Pornos dauern. Aber die Alternativen zu heterosexuellen Rollenvorlagen im Schlafzimmer aufzuzählen, würde ewig dauern. 

Diese Blaupause steckt allerdings so tief in uns allen, dass es ein extrem anstrengender und auch schmerzhafter Prozess sein kann, sich davon zu lösen. Denn wenn wir einmal mit dem Hinterfragen von allem und jedem anfangen, wo sollen wir dann aufhören? Wie sollen wir jemals wissen, was wir wirklich wollen, wenn Begehren nicht frei, sondern eingebunden in Genderperformance stattfindet? Studien zeigen: sogar Lesben sind von Heteronormativität nicht frei, sondern fühlen sich zum Teil sogar durch das Passen ins patriarchale Geschlechterbild und die damit verbundene sexuelle Aufmerksamkeit so bestätigt, dass sich das fast wie sexuelle Anziehung anfühlen kann (compulsory heterosexuality). Queerer Sex ist einerseits ein Tabu, aber auf der anderen Seite wird er wieder fetischisiert. Das beweist die Beliebtheit der Porno-Kategorie “lesbian” zum Beispiel auf Pornhub. Aber das liegt nicht nur an der Fetischisierung, sondern auch heterosexuelle Frauen schauen gerne Pornos, wo die Lust der Personen mit Vulva im Vordergrund steht. 

Es ist in Ordnung, sich mit der eigenen Lust auseinander zu setzen! Wie viele Personen mit Vulva wissen noch nicht mal, wie sie selbst “da unten” aussehen - geschweige denn, was sie gerne mögen? Und mit Auseinandersetzung mit sich selbst meine ich auch ganz explizit, sich selbst zu befriedigen, wenn sich das für eine Person stimmig anfühlt. Denn in dem Zuge dessen müssen wir auch über A_romantik und A_sexualität sprechen: nicht alle wollen Sex und/oder eine liebende Beziehung zwischen zwei Personen. Zum Beispiel wünschen sich polyamore Personen Partner*innenschaften zwischen mehreren Personen. Oder andere wollen eben auch einfach “nur” One-Night-Stands ohne Verpflichtungen. Anything goes, solange es konsensuell ist! Und wenn die Beziehung nicht nur um Besitzansprüche auf der einen und eine Unterwerfung, die auf der anderen Seite Sicherheit schaffen soll, existiert - wie die heterosexuelle Ehe in den letzten Jahrhunderten. 

Wir dürfen uns nicht noch länger die Illusion machen, dass die meisten junge Menschen nicht schon weit vor der Volljährigkeit mit Pornografie in Kontakt kommen. Wieso nutzen wir dann nicht dieses leicht zugängliche Medium für wirklichen Mehrwert? Für Empowerment? Um Inspiration zu bekommen, um Praktiken, Verhütung und Konsens zu erlernen… und auch: um echte Körper zu zeigen. Wenn ich einmal Kinder haben sollte, dann zahle ich ihnen lieber einen feministischen Porno-Account, als dass sie mit gewaltsamen Inhalten konfrontiert werden.

Generell dürfen wir in der Erziehung Kinder schon früher fragen, was sie möchten. Ob sie lieber mit Puppen oder mit Autos spielen wollen, oder ob sie umarmt werden wollen. Dafür muss Konsens explizit ausgehandelt werden, denn es ist ein Trugschluss, dass alle die Körpersprache von anderen selbstverständlicherweise lesen können. Es gibt beispielsweise insbesondere für Personen mit Autismus die Gefahr, öfter von sexualisierter Gewalt betroffen zu sein sind, gerade weil sie die zwischenmenschliche Kommunikation weniger lesen können. 

 Das Ding ist, dass jeder Person Selbstbestimmung zugestanden werden sollte - damit nicht alle im Default-Modus leben und uns in Rollen zwängen, die vielleicht gar nicht zu uns passen. Das Konzept der Sexpositivtität sagt genau das: jeder Sex mit Konsens und zwischen volljährigen Erwachsenen (egal, wie vielen!) ist gut und darf Spaß machen! Das heißt nicht, dass es dabei zu neuen Verboten kommt. Sexpositivität spricht es keiner Person mit Vulva ab, im Bett unterwürfig zu sein oder Kinks auszuleben, oder sich eben auch dazu zu entscheiden, ganz bewusst Kinder zu bekommen oder auch für die Familie den Beruf aufzugeben. Es geht auch nicht darum, Einzelpersonen oder Gruppen wie “den Männern” die Schuld für unser ganzes Debakel zu geben. Rollen können wir erst einmal nur in uns selbst auflösen. Das macht uns nicht handlungs ohnmächtig, sondern es gibt uns auch eine Chance: Denn wir haben die Möglichkeit, uns selbst und unserem Umfeld den Raum zu eröffnen, es anders zu machen. Und das fängt in angemessener Form bereits im Jugend- bzw. Kindesalter an. Die Jugendlichen sind bereit dafür. Das hat jede Frage und jeder einzelne Ruf der Zustimmung während unserer Podiumsdiskussion gezeigt. “Endlich habe ich mich gesehen gefühlt”, Feedback sollte auch der schulische Aufklärungsunterricht anstreben.

 Wir müssen uns auch gar nicht alle Feminist*innen nennen, um selbstbestimmt Sex zu haben - oder eben auch nicht zu haben. Wir alle können uns dadurch befreien, wenn wir jederzeit alle Eigenschaften und Gefühle von uns selbst und anderen zulassen und klar kommunizieren. Lass uns über Sex reden und dadurch nicht Objekt oder Akteur*in einer patriarchalen Fantasie sein, sondern lasst uns das Subjekt unseres eigenen Lebens werden!

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