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Warum die Letzte Generation keine Angst vor dem Gefängnis hat


Petra | 15.05.2023

Es gibt kaum jemanden, der zu den Aktivist*innen der Letzten Generation keine klare Meinung hat. In den Medien werden sie mal als „selbsternannte Märtyrer”, mal als „Klimaterroristen”, dann wieder als „selbstlose Weltretter” stilisiert. Unsere Reporterin Petra wollte wissen, wer diese Menschen wirklich sind, die sich bei eisigen Temperaturen auf die Straße kleben – und hat sie zu einer ihrer Aktionen begleitet.

Die Nachricht erreicht mich um 18:52 Uhr, verschlüsselt via Signal Messenger: „Unser Treffpunkt morgen 7:15 Uhr.“ Dann zwei lange Nummern: 48.125179864761144, 11.5268058106. Es sind die Koordinaten eines Spielplatzes im Münchner Westpark. Die Letzte Generation kommuniziert für die Planung ihrer Aktionen ausschließlich über Signal, gibt den genauen Ort erst kurz vor der nächsten Aktion bekannt. Ein paar Wochen zuvor gab es auf meine Anfrage hin einen freundlichen Mailkontakt, daraufhin ein kurzes Telefonat mit einem Mitglied der Münchner Gruppe und die Zusage, dass ich die Menschen der Letzten Generation bei ihrer nächsten Störung begleiten darf.

Als ich dann tatsächlich an einem Montagmorgen im Februar früh morgens an der Isar entlang Richtung Sendling radele, durch den noch dunklen Westpark, ist mir doch etwas mulmig zumute. Der Nebel liegt noch dick in der Luft und der Westpark ist nachts nicht die erste Adresse für Frauen, die allein unterwegs sind. Ich fahre an ein paar Joggern vorbei und an ein paar Gestalten, die ich lieber schnell mit ein paar kräftigen Tritten in die Pedale hinter mir lasse. Checke das Navi auf meinem Handy, die Uhrzeit, ich bin pünktlich. Als ich am noch verwaisten Spielplatz ankomme, sehe ich ein paar Leute aus verschiedenen Richtungen kommen – das müssen sie sein. Ein Mann mit Brille, eine zierliche Frau und ein hagerer Typ laufen langsam zum Treffpunkt. Ich kette mein Rad fest und gehe unsicher auf die Ankommenden zu. „Seid Ihr von der Letzten Generation?“. Es liegt kurz eine Skepsis in der Luft, keiner will zu schnell antworten, die Gruppe womöglich verraten, ich könnte ja auch in Zivil sein. Ich bin darauf vorbereitet, dass es schwierig werden könnte. Die meisten Mitglieder der Letzten Generation, so haben es meine Recherchen ergeben, sprechen nicht mit der Presse, sie werden darauf eingeschworen, lieber nichts zu sagen als etwas Falsches, das sie angreifbar macht.

Hinter mir kommt noch einer, es ist Ernst Hörmann. Erleichterung, mit ihm habe ich telefoniert, freundlich und zugewandt gibt er mir die Hand und stellt sich vor. Ob ich vorab Fragen habe. Er ist über 70 Jahre alt, trägt eine schlichte Brille und wirkt wie ein freundlicher pensionierter Geographielehrer, wahlweise auch Geschichte. Ich will wissen, seit wann er dabei ist. Seit Januar letzten Jahres, er habe schon lange nach etwas gesucht, was radikaler ist und möglicherweise mehr bringe als die Demos von Fridays for Future. Seither war er bei mehr als 50 Aktionen dabei. Heute ist er etwas müde, erzählt, er habe nur drei Stunden geschlafen in der letzten Nacht – zu viele Mails zu beantworten, gerade plane er einen Vortrag für einen Auftritt bei der Sicherheitskonferenz. „Dafür muss ich mich intensiv einlesen, nicht nur die neuesten Studien zum Klima, sondern auch zum Ukraine-Krieg.“ Über den Krieg will ich heute nicht sprechen, lieber wissen, warum er sich für die Letzte Generation entschieden hat. Schnell stellt sich heraus, dass er sich auskennt: Er weiß alles über die sechzehn Kipppunkte, kann erklären, welche Mechanismen sich gravierender auswirken als andere. Kann darüber referieren, wie das Erd-Klimasystem funktioniert und warum das Ausbleichen der Korallen so gefährlich ist.

Fünf Jahre habe er sich mit herkömmlichen Protestaktionen, von denen er auch viele selbst organisiert hat, auch manchmal mit solchen des zivilen Ungehorsams für Klimagerechtigkeit eingesetzt, doch die politisch oft versprochenen Konsequenzen trafen nicht ein, nicht mal nach dem viel zitierten Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Da habe er nicht lange überlegt, weil doch endlich etwas geschehen müsse. 


Schließlich stößt die letzte Person zur Gruppe hinzu. Es ist Wolfgang, ein großer Mann mit Glatze, er lacht und fragt, wann es losgeht. Ernst blickt auf die Uhr. Es ist Zeit. „Willst du dich wirklich schon festkleben?“ fragt er Johanna, die das erste Mal bei einer Aktion der Letzten Generation dabei ist. Sie ist früh morgens mit dem Zug aus Salzburg gekommen. „Dort gibt es keine Gruppe, deshalb bin ich hergefahren.“ Ja, sie will sich festkleben, erwidert sie ruhig und wirkt nicht ängstlich, aber auch nicht aufschneiderisch – überhaupt scheint hier keine*r ein Interesse daran zu haben, im Mittelpunkt zu stehen. Abwartend nehmen sie Banner und Klebetuben entgegen, macht sich die Gruppe auf den Weg. Über eine Rotunde gelangen wir zur vierspurigen Autobahn und mir entfährt ein unüberlegtes „Nein, das ist ja Wahnsinn, da wollt ihr auf die Straße gehen?“. Es erscheint mir irrsinnig, sich auf der vollen Autobahn mitten im morgendlichen Berufsverkehr in Lebensgefahr zu bringen. „Nein, keine Sorge“, beruhigt mich Gregor, der zweite Mann mit Brille. Er hat eine Kameraausrüstung dabei und wird die Aktion für die Presse und den Instagram-Account der Letzten Generation filmen. „Wir gehen nur auf die Auffahrt, nicht direkt auf die Autobahn.“ 

Mir ist bereits kalt, ich bin froh, ein Stückchen zu laufen. „Wenn wir Glück haben, hat die Polizei nichts mitbekommen von unserer Planung“, meint Ernst. Ich komme mit Michael ins Gespräch, dem ruhigsten von allen. Er hat seinen Job als Webseitenadministrator aufgegeben, will sich deshalb aber nicht als herausragend verstanden wissen. „Ich habe den Vortrag von Henning Jeschke gesehen. Da blieb mir nichts anderes übrig, als mitzumachen.“  “ Aber der letzte Entschluss, sich dann wirklich auf die Straße zu kleben, wann denn der kam, frage ich. Schließlich nehmen die Aktivist*innen hohe Geldstrafen (in der Regel zwischen 20 und 50 Tagessätze je Störung) in Kauf, die wochenlange Inhaftierung einiger Aktivist*innen in München ging durch die Presse. „Ach“, winkt er ab, „das ist nicht so heldenhaft, wie man es sich vielleicht von außen vorstellt. Es ist auch ein soziales Phänomen, die Leute sind nett, man fühlt sich denen dann auch zugehörig, findet gemeinsam Stärke und Mut für die Sache. Das Prinzip ist, dass man mit dem Letzten, das einem bleibt, dem eigenen, verwundbaren Körper, eine politische Veränderung erzwingt.“ Später wird ein anderer Reporter Ernst fragen, ob er das nicht als Erpressung empfinde. „Nein“, erklärt der ihnen ruhig. Denn ich bereichere mich ja nicht daran, habe durch meine Aktion keinen persönlichen Nutzen.“

„Wir haben ja nur noch ein bis zwei Jahre“, ergänzt Wolfgang. „Ich habe mir vierhundert des zweitausend Seiten starken Klimaberichts der WHO durchgelesen. Da war Henning Jeschke* gerade in den Hungerstreik getreten. Danach konnte ich einfach nicht mehr anders, als der Letzten Generation beizutreten. Wieso soll ich nicht ein bis zwei Jahre lang alles versuchen, um das Klima zu retten? Wenn wir dann kapitulieren müssen, kann ich immer noch in meinen alten Job als Krankenpfleger zurückkehren.“ 

Wir haben den kleinen Wall vor der Autobahnauffahrt erreicht. Dann geht alles ganz schnell: Ernst, Johanna, Wolfgang und Michael gehen, nachdem die Autos wegen eines Staus zum Stehen kommen, auf die Straße. Vor ihnen ein Kastenwagen. Zwei Männer sitzen darin, der eine steigt sofort aus und zerrt Ernst von der Fahrbahn, die anderen drei Aktivist*innen schließen die entstehende Lücke, sie sind routiniert. Ernst robbt zurück. Wie in einer Choreografie nehmen die vier ihre Rucksäcke von den Schultern, kramen die Warnwesten heraus und streifen sie über. Kleber aus den Taschen, patsch auf die Handflächen, und Ernst und Johanna kleben binnen Sekunden mit beiden Handflächen auf der Straße, an den beiden Außenpositionen. In der Mitte sitzen Michael und Wolfgang, sie kleben sich nicht an, damit sie im Notfall eine Rettungsgasse ermöglichen können. 

"Man muss die Leute stören, sonst verdrängen sie es."

Die beiden Männer steigen aus, es sind Handwerker, sie müssen zur Arbeit. Wie sie das ihrem Chef erklären sollen, fragen sie. Beide wirken überfordert mit der Situation, wütend, hilflos. Wolfgang sagt: „Ruft euren Chef an, sagt ihm, Idioten auf der Straße, ihr kommt nicht durch“. 

Ernst, dem ich am Straßenrand weiter Fragen stelle, erklärt mir, dass ihnen die Menschen, die durch ihre Aktionen zu spät kommen, auch leid täten. „Da ist die Mutter mit unruhigem Kind auf dem Rücksitz, die zur Kita und zur Arbeit muss, natürlich tut uns das leid. Aber fünf Jahre demonstrieren hat nichts gebracht. Man muss die Leute stören, sonst verdrängen sie es. Manche sind dann auch zum Gespräch bereit und geben zu, dass wir recht haben, mit dem, was wir machen. Wenn wir nur 20 Prozent der Menschen erreichen, es schaffen, dass die zur nächsten Demo von Fridays for Future gehen, dann ist das ein echter Gewinn. Je mehr Menschen protestieren, desto weniger kann die Politik über sie hinweg regieren.“ Inzwischen stauen sich die Autos, zwei Frauen steigen aus, sie sind aufgebracht. Ein älterer Herr kommt dazu, sagt, dass doch nun durch den Stau erst recht viel Dreck rausgepustet würde von all den Autos mit laufendem Motor. „Ihr spinnt’s doch!“, schimpft er. 

Ich bitte Johanna um ein Statement für den Instagram-Kanal des BUUH! Magazins. Sie ist von allen am stillsten, wir haben kaum ein Wort gewechselt und ich bin nicht sicher, ob sie ihre Beweggründe öffentlich darlegen möchte. Doch sie erwidert: „Okay, mach ich.“ Und sagt dann in meine Handykamera: „Ich find’s einfach so wichtig, mich dafür einzusetzen. Natürlich ist es unbequem und natürlich ist es für alle Beteiligten eine blöde Situation. Ich mach das ja auch nicht gern. Aber ich sehe einfach keine andere Möglichkeit. Die Politik tut weiterhin so, als würde es schon werden, aber es wird nicht. Die Menschen sterben ja schon heute.“ Sie ist von Beruf Webshop-Managerin, in ihrer Freizeit engagiert sie sich als überzeugte Veganerin auch für den Tierschutz und betreibt einen eigenen Podcast zum Thema.

Eine ältere Dame fährt mit dem Rad unterhalb der Autobahnauffahrt vorbei, kommt extra nach oben und lobt die Aktivist*innen: „Lasst euch nicht entmutigen! Ich finde es toll, was ihr macht“. Gregor hat sie dabei gefilmt und postet die Sequenz später als Reel auf Instagram. Darunter sammeln sich auch Kommentare, die mutmaßen, die Frau wäre für ihren Kommentar bezahlt worden. Ein weiterer Radfahrer macht sich über die Autofahrer lustig: „Fahrt’s mit’m Radl, na passiert euch des net!“ Die Aktivist*innen der Letzten Generation steigen nicht darauf ein. Überhaupt reagieren sie, wenn überhaupt, mit defensiven Erklärungen auf Anfeindungen. „Wir wollen die Stimmung nicht anfachen, wollen die Menschen nicht grundlos ärgern. Es sind ja die Inhalte, auf die wir aufmerksam machen wollen. Niemandem ist geholfen, wenn wir zusätzlich provozieren, am Ende hoffen wir auf Einsicht und darauf, dass sich die Menschen mit unseren Forderungen auseinandersetzen“, erklärt Ernst.

Inzwischen ist die Polizei eingetroffen. Erst zwei Wägen, dann kommen noch einige weitere, insgesamt vier, mit Gefangenentransporter. Die Polizist*innen fragen gleich, „Wer von Ihnen ist festgeklebt?“ – es hat etwas Alltägliches, erst der Check, dann der Versuch, die nicht Angeklebten zur Fahrbahnseite zu ziehen. Belehrung, dass das Versperren der Fahrbahn strafrechtlich verfolgt werden kann. Ich friere, die ganze Aktion dauert nun schon über eine Stunde – ich dachte zuvor, dass es sich vielleicht um eine halbstündige Angelegenheit handeln würde, bis die Straße wieder passierbar sein würde. Ich frage Gregor, den Kameramann, wie es denn nun weitergehe. „Jetzt kommt dann der Öl-Olli“, erwidert der. Ich muss ein bisschen schmunzeln, frage, ob es denn immer der gleiche sei, der anrückt, um die Hände der Aktivist*innen vom Fahrbahnbelag abzulösen. „Meistens, ja“, antwortet er. Und setzt hinzu: „Ich nenne ihn einfach so, das ist eben der Öl-Olli. Der hat einen schicken Pick-up und ein spezielles Öl und Mullbinden.“

Noch eine halbe Stunde später ist der Mann endlich da. Es ist nicht der Öl-Olli, sondern ein anderer. Und er löst erst Ernst von der Fahrbahn, dann Johanna. Seine und ihre Hände sind rot, sehen aus, als klebte Fahrbahnbelag daran, und jede Menge ausgehärteter Kleber. Beide müssen mit in den Polizeibus einsteigen und sich ausweisen, Ihre Daten werden erfasst und sie werden dort offensichtlich vernommen. Es ist 09:03 Uhr, die Aktion ist beendet, die Fahrbahn wieder frei. Ein weißer Kleinbus mit Starnberger Kennzeichen fährt vorüber, der Fahrer kurbelt das Fenster runter und ruft: „Einfach mit’m Schneepflug von der Straße kratzen!“ 

Ich gehe mit Gregor, Wolfgang und Michael, die bald, nachdem ihre Personalien erfasst wurden, wieder gehen dürfen und frage Wolfgang, was nun mit den beiden im Bus passieren werde. „Entweder müssen sie mit aufs Präsidium in Tageshaft und kommen abends wieder frei, wenn sie versichern, dass sie erst mal keine weitere Aktion geplant haben. Oder sie dürfen auch gleich gehen, wenn sie Glück haben. Wenn sie sagen, dass sie konkrete weitere Aktionen planen, können sie nach Bayerischem Gesetz bis zu dreißig Tage festgehalten werden.“

Doch wenig später stoßen Ernst und Johanna wieder dazu. Sie haben versichert, dass sie „nicht unmittelbar“ die nächste Aktion planen. „Das ist auch wahr.“, fügt Ernst hinzu. „Wir haben ein sehr ehrliches Verhältnis zur Polizei. Das wissen die auch. Wir alle würden ins Gefängnis gehen für die Sache.“ „Ihr alle?“, hake ich nach und sehe die anderen an. Ein simples Nicken macht die Runde.


*Am 25.09.2021 beendet Henning Jeschke nach 27 Tagen mit seiner Mitstreiterin Lea Bonasera den zum Schluss trockenen Hungerstreik, nachdem der damalige Kanzlerkandidat Olaf Scholz zusagte, mit ihnen ein öffentliches Gespräch über den Klimanotfall zu führen.

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