lsvd-interview

„Eine Pride-Parade ist eine hochpolitische Veranstaltung!"

Karla | 30.06.23

Es ist Pride Month! Wir haben mit Kerstin Thost, Pressesprecher*in des Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland (LSVD), über die Bedeutung dieses Monats gesprochen – und darüber, was sich in Deutschland bezüglich der Gleichberechtigung von LSBTIQ* noch ändern muss.

Hallo Kerstin!

Du hast selbst längere Zeit bei der BUUH! mitgewirkt. Nun bist du Pressesprecher*in vom LSVD, der sich für die Gleichberechtigung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen sowie queeren Menschen (LSBTIQ*) einsetzt. Wie genau können wir uns eure Arbeit vorstellen?


Als größte politische Interessensvertretung für LSBTIQ* in Deutschland hat unsere Arbeit viele Ebenen. Die Basis bilden unsere Landesverbände, die auf Länderebene unsere Mitglieder organisieren und politisch vertreten. Verschiedene Landesverbände haben verschiedene Schwerpunkte, wie z.B. die Beratung von Regenbogenfamilien. Als Bundesverband stimmen wir unsere politischen Positionen durch Vorstandswahlen und unsere Verbandstage mit unseren Mitgliedern ab und vertreten diese Verbandspositionen dann gegenüber der Bundesregierung und Mitgliedern des Bundestags – unter anderem durch Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Oder wir werden als Expert*innen in Ausschüsse und auf Panels eingeladen. Außerdem haben wir mehrere Projekte, zum Beispiel unser Projekt für queere Geflüchtete oder gegen LSBTIQ*-feindliche Einstellungen in der Kinder- und Jugendarbeit. Ich hoffe, das kann einen kleinen Einblick geben.


In letzter Zeit habt ihr immer wieder auf die Asylrechtsverschärfung an den EU-Außengrenzen aufmerksam gemacht. Warum ist es so wichtig, dass queere Geflüchtete in Deutschland Schutz finden?


In vielen Ländern dieser Welt werden Personen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und/ oder geschlechtlichen Identität diskriminiert bis hin zu systematisch verfolgt. Deutschland hat aus unserer Sicht eine historische Verantwortung bezüglich der Verfolgung von LSBTIQ*. LSBTIQ* outen sich oft erst sehr spät im Asylverfahren, aus Angst vor Diskriminierung und internalisierter Scham. Im Asylverfahren muss regenbogenkompetent mit den Bedürfnissen von LSBTIQ* umgegangen werden! Das ist die Verantwortung von einer menschenrechtsorientierten und demokratischen Asylpolitik. Bis zum Herbst wurde im deutschen Asylverfahren bei LSBTIQ* von einer diskreten Lebensweise ausgegangen. Das heißt, selbst wenn Geflüchtete im Asylverfahren ihre Identität “bewiesen haben”, konnten sie in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden, weil sie dort ja ihre Identität nicht öffentlich leben müssten. Zum Glück wurde die Dienstanweisung angepasst. Wir wünschen uns jetzt auch ein Einlenken der deutschen Politik, um im Europäischen Parlament die Grenzverfahren unter Haftbedingungen nach der Asylrechtsverschärfung zu verhindern. Diese Unterbringung wird den Zugang zu medizinischer und psychosozialer Versorgung unmöglich machen und die Gewaltgefahr für ohnehin besonders schutzbedürftige LSBTIQ* potenzieren.


Gerade ist Pride Month. Was bedeutet dieser Monat für den Lesben- und Schwulenverband?


Der Pride Month bedeutet für mich, dass wir mehr Interviewanfragen bekommen und die Lebensrealitäten und politischen Forderungen von LSBTIQ* mehr Newswert haben. Einerseits ist der Pride-Month für uns als Community auch die Zeit, sich daran zu erinnern, wo wir herkommen, was unsere Geschichte ist. Das darf gefeiert werden! Aber trotzdem ist eine Pride-Parade immer noch eine hoch politische Veranstaltung. Denn die Rechte von LSBTIQ* sind noch lange nicht erreicht. Und unsere Freiheit als demokratisches Menschenrecht wird auch wieder aktiv angegriffen. Das zeigen die steigenden Zahlen von LSBTIQ*-feindlicher Hasskriminalität, aber auch die sich häufenden Berichte von Gewalt am Rande von CSDs und die zunehmende queerfeindliche Rhetorik – auch in demokratischen Parteien. Viele LSBTIQ* haben Angst, sich auf der Straße als Teil der Community zu zeigen. Das ist ein massiver Einschnitt in die persönliche Freiheit.


Als Expert*innen beratet ihr unter anderem auch den Bundestag zu queeren Themen. Habt ihr das Gefühl, euch in der Politik genug Gehör verschaffen zu können, oder geht da noch mehr?


Politische Veränderungen sind ein Marathon, kein Sprint. Da brauchen wir einen langen Atem. Es ist ein mühsam erstrittener Forschritt, dass die Politik uns als Expert*innen für unsere eigenen Lebensrealitäten und als politische Interessenvertretung von unseren Mitgliedern einlädt. Zuletzt konnte ich die Anhörung im Menschenrechtsausschuss zum Thema “LGBTIQ weltweit” begleiten. Das war ein sehr wichtiger Schritt, dass sich der Ausschuss damit auseinandergesetzt hat, aber natürlich reicht das noch nicht. Das Thema darf jetzt nicht von der To-Do-Liste abgehakt werden, sondern konkrete Handlungen – von Gesetzesänderungen bis zur Verfügbarmachung von Haushaltsmitteln – müssen folgen.


Was muss sich in Deutschland auf politischer Ebene ändern, damit wahrhafte Gleichberechtigung verwirklicht werden kann?


Der LSVD streitet für viele Gesetzesänderungen seit Jahren. Da ist einmal die Reform des Abstammungsrechts zu nennen, damit zum Beispiel in Zwei-Mütter-Familien die eine Mutter nicht mehr ihr eigenes Kind adoptieren muss. Außerdem setzen wir uns ein für eine Finanzierung von Präventionsmaßnahmen gegen Hasskriminalität gegen LSBTIQ* und ein Selbstbestimmungsgesetz, das den Namen verdient. Zentral ist aus unserer Sicht allerdings auch, dass endlich der Artikel 3,3 des Grundgesetzes erweitert wird. Dieser wurde nach dem 2. Weltkrieg eingeführt, um den Opfergruppen des NS-Regimes in Zukunft Diskriminierungsfreiheit zu garantieren. Allerdings sind aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminierte Menschen dort bis heute nicht aufgelistet. Wir hoffen, dass die Bundesregierung ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag einlöst, und durch die Ausweitung von Artikel 3,3 garantiert, dass auch andere Rechte für LSBTIQ*, wie zum Beispiel die “Ehe für alle” nicht mehr rückgängig gemacht werden können.


Gibt es sonst noch Themen im Bereich LSBTIQ*, die deiner Meinung nach zu sehr unter dem Radar bleiben?


Ich könnte viele Themen aufzählen, für die in diesem Interview allerdings wahrscheinlich keine Zeit mehr ist. Ich möchte jedoch den Raum nutzen, um auf Intersektionalität und Mehrfachdiskriminierung aufmerksam zu machen. Viele Menschen erleben Mehrfachmarginalisierung, also zum Beispiel queere Geflüchtete aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und/oder geschlechtlichen Identität und aufgrund der Migrationsgeschichte. Oder auch lesbische, bisexuelle und queere Frauen. Oder queere Sexarbeiter*innen. Eine wirksame Antidiskriminierungspolitik muss diese Verknüpfungen in den Blick nehmen und für mehr Synergieeffekte sorgen. Also beispielsweise müssen die Strukturen zur Geflüchtetenhilfe für die Bedürfnisse von LSBTIQ* sensibilisiert werden und umgekehrt. Dieser Fokus auf Intersektionalität muss uns aber auch als Community beschäftigen: Wo haben wir noch Verbesserungspotenzial? Welche Barrieren bauen wir zum Beispiel bei der Planung eines CSDs noch auf? Wir als Verband befinden uns zur Zeit auch in diesem Prozess der Selbstreflexion.


Wir danken dir für das Gespräch!

Foto: Caro Kadatz

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