MuenchenohneWiesn

München ohne Wiesn -

ein Fest


Lilly | 15.10.20

Knapp zwei Wochen ist es her, dass das Oktoberfest vorbei ist - hätte es dieses Jahr stattgefunden. Zwar gab es ein paar kleine Ersatzveranstaltungen wie die Mini-Wiesn, Sommer in der Stadt oder die Wirtshaus-Wiesn. Letztere überschattet von Beschränkungen (u.a. nur fünf Leute pro Tisch), da München vor 2 Wochen die 50 pro 100.000 Marke überschritten hat. Aber für echte Wiesn-Fans war dieses Jahr somit eine echte Enttäuschung, ein Reinfall. Für mich, auch gerade als Münchnerin, eine Erholung. 
6,3 Millionen Besucher hatte die Wiesn die letzten beiden Jahre und die kamen wie immer aus aller Welt. Grundsätzlich ist das natürlich etwas, was ich sehr begrüße, ein internationales Zusammentreffen, wie schön! Für die in München wohnhaften Menschen allerdings, die nicht 24/7 in Tracht grölend auf den Bierbänken abhängen, ist das Ganze eine Tortur. Angefangen mit den Öffis: Die U4/U5 Strecke sollte man komplett meiden, außer man möchte gerne in rund um die Uhr aus allen Nähten platzenden Waggons auf Kuschelkurs gehen. Auch alle möglichen anderen Bahnen haben ständig Verspätung, Trams fahren fast gar nicht und die Ersatzbusse lassen gern auf sich warten. Letztes Jahr wollte ich am ersten Wiesn-Tag abends zu mir nach Hause fahren, stand nach einer anstrengenden U4-Fahrt dann aber 40 Minuten an der Richard-Strauss-Straße, kein Bus in Sicht. Aus Gesprächen mit anderen Wartenden wurde klar: die Busse werden hier abgezogen, damit sie in Oktoberfestnähe vermehrt fahren können. Danke für nichts - nach einer Stunde warten haben wir uns in Gruppen dann Taxis genommen. 

Was aber noch anstrengender und auch gefährlicher ist, sind die Massen an Besoffenen. Fast egal zu welcher Tageszeit taumeln sie durch die Münchner Innenstadt, suchen ihre Hotels, ihre Freunde, eine gute After-Hour oder wollen wieder zur Wiesn zurück. Ich als Frau fühle mich gerade abends oft sehr unwohl. Ich weiß nie, ob das Gegenüber in der U-Bahn mich angraben oder „nur“ ankotzen wird. Letztes Jahr hatte eine Freundin von mir ein einschneidendes Erlebnis als sie mittags auf dem Weg zur U-Bahn war. Nichtsahnend ging sie die Treppen hinunter - und da hockte ein Mann, hielt seine Lederhose von sich weg und kackte auf die Stufen. Seine Exkremente liefen flüssig die Treppe herab. Fünf Minuten später stand er neben ihr am Gleis. Ich kann mir nur ausmalen, wie das für Menschen mit Kindern sein muss. 
Ich kenne auch Leute, für die diese Tradition heilig ist. Das verstehe ich, bin selbst hier geboren und kenne auch die schönen Seiten von Volksfesten. Außerdem trinke ich selbst gerne Alkohol. Und hier liegt aber der Knackpunkt: Das Problem sind nicht die vielen Menschen oder das Feiern per se, sondern dass es nur darum zu gehen scheint, die Anderen unter den Tisch und sich selbst ins Koma zu saufen.

Das Phänomen des Alkohols als „Lieblingsgift der Deutschen“ und Bier als „deutsches Kulturgut“ wird auch regelmäßig von der heute-show hochgenommen. Oliver Welke sagt in einer Folge: „In keinem westlichen Industrieland ist Alkohol so rund um die Uhr verfügbar und so billig wie bei uns“. Ich weiß, wie das klingt. Wir trinken doch alle gerne mal einen über den Durst, muss man das jetzt ernsthaft schlecht machen? Alkohol bedeutet schließlich Enthemmung, Spaß, Freiheit! Was er allerdings anrichtet, wird wenig thematisiert, gerne auch von Politikern ignoriert. Jährlich sterben in Deutschland ca. 74.000 Menschen durch die Folgen von Alkoholkonsum. Es ist lächerlich und zugleich beängstigend, wie normalisiert und sogar erwünscht der Konsum von Alkohol ist. Obwohl er, konkret in Bezug auf das Oktoberfest, oft Gewaltbereitschaft, Kontrollverlust und auch Übergriffigkeit bedeutet. Doch gerade in Bayern spielt die Heroisierung des Alkoholtrinkens bereits ab einem sehr jungen Alter eine große Rolle. Die Normalisierung des Exzesses, verankert in den Gedanken des Bieres als Grundnahrungsmittel, gilt mittlerweile als Kulturgut, was auf jeden Fall mehr als fragwürdig zu bewerten ist. Da wirkt die Zahl von 6.592 Menschen, die insgesamt 2019 auf der Wiesn ärztlich behandelt werden mussten (übrigens eine fast doppelt so hohe Zahl wie in den beiden Jahren davor) doch überraschend niedrig.
 
Ich möchte nicht, dass dieses traditionsreiche Fest verboten oder der Alkohol gänzlich verbannt wird - wie vielen anderen jungen Menschen fehlt mir das Feiern in diesen Zeiten extrem - trotzdem war es eine sehr angenehme Erfahrung, ein Jahr nicht zwei Wochen lang von alkoholisierten Wiesngänger*innen belagert und im Alltag eingeschränkt zu werden. Es kann nicht sein, dass Münchner*innen deshalb überall hin zu spät kommen und ihre Tagesplanung dem Oktoberfest-Wahnsinn unterordnen müssen. Doch was noch mehr nicht sein kann, ist, dass Alkoholkonsum weiterhin in diesem Maße glorifiziert und die Möglichkeiten dazu einem nachgeschmissen werden, der komplette Absturz mit potentieller Alkoholvergiftung als normales Wochenendereignis angepriesen und das Erlernen eines gesunden Umgangs damit verhindert wird, allein begründet durch den Traditionsreichtum bayerischer Volksfeste.

(Während ich diesen Text schreibe, trinke ich Tee aus einem Oktoberfestkrug.)


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