suizid

Wir müssen über Suizid reden

Nati | 25.11.2021

TW: Suizid, psychische Probleme


Mentale Gesundheit ist vor allem in Zeiten der Pandemie immer öfter Teil des öffentlichen Diskurses geworden. Auf Instagram finden wir Anleitungen, wie ein guter Self-Care-Day aussehen sollte und auch in den Medien lesen wir immer öfter über Depressionen und andere psychische Erkrankungen. Immer mehr Stimmen werden laut, die das System dafür verantwortlich machen, und nicht die einzelnen Personen. Das ist gut so. Und extrem wichtig. Doch ein Thema, mit dem wir in den (sozialen) Medien nur selten konfrontiert werden, ist Suizid. Außer es handelt sich um berühmte Persönlichkeiten. Im vergangenen Jahr haben sich allein in Deutschland mehr als 9.200 Menschen das Leben genommen – diese Menschen waren nicht alle Fußballspieler:innen, Sänger:innen oder Schauspieler:innen. Doch wieso lesen wir nichts über sie?

Zahlreiche Studien haben bewiesen, dass die Medienberichterstattung und die Suizidraten abhängig voneinander sind. Dabei kommt in der Medienforschung oft der Werther-Effekt ins Spiel. Der Begriff geht auf Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“ aus dem Jahr 1774 zurück, in dem Werther in Briefen an einen Freund über seine unerfüllte Liebe zu einer verheirateten Frau schreibt. Am Ende nimmt er sich mit einer Pistole das Leben. Schon bald sollen es mehrere Menschen Werther gleichgetan haben – bei sich hätten sie stets den Goethe-Roman getragen, sich teils sogar so angezogen wie Werther. Im 20. Jahrhundert konnten immer mehr wissenschaftliche Studien belegen, dass der Werther-Effekt existiert und Berichte über Suizide zu einer steigenden Suizidrate in der Bevölkerung führen. Vor allem nach Berichterstattung über prominente Personen, die sich das Leben genommen haben, wie eine Studie des US-Soziologen David Philipps im Jahr 1974 zeigt. Bei berühmten „Vorbildern“ spielen anderen Studien zufolge auch meist die Art und Weise und der Ort der Selbsttötung eine große Rolle. Das wohl bekannteste deutsche Beispiel hierfür ist der Tod des Fußballspielers Robert Enke, der sich am 10. November 2009 durch Schienensuizid das Leben nahm. In den Medien war sein Tod wochenlang das Thema schlechthin. Medien suchten Gründe, wieso Enke “nicht mehr leben wollte” - als ob es einen einzigen Auslöser, nur einen Grund oder ein Motiv gäbe. Zeitungen zeigten auf der Titelseite, wie seine Frau am Unfallort mit der Todesnachricht konfrontiert wird, berichteten, wo er sein Auto geparkt hatte und wie weit er es von da zu den Schienen hatte, skizzierten seine letzten Stunden. Die Anzahl der suizidalen Vorfälle auf den Gleisen der Deutschen Bahn stieg in den Tagen nach Enkes Suizid von durchschnittlich 2,3 auf durchschnittlich neun Fälle pro Tag.

Im deutschen Pressekodex steht seit 1997 festgeschrieben: „Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen und die Schilderung näherer Begleitumstände.“ All das wurde bei Robert Enke, so wie bei vielen anderen berühmten Persönlichkeiten, missachtet. Denn der Pressekodex ist nicht verpflichtend, die Klicks oder Verkäufe der Zeitungen bringen jedoch Geld. Da können Ethik, Moral und das Überdenken der breit erforschten Folgen auch mal schnell in die hinterste Ecke des Gehirns wandern. Eine Rüge vom Presserat scheint mit Schulterzucken angenommen zu werden.

Mit diesem Wissen lässt sich schnell der Schluss ziehen, es sei gut, dass Suizide in den Medien kaum Aufmerksamkeit finden. Doch was dabei nicht beachtet wird, ist, dass es nicht unbedingt um die Tatsache geht, dass berichtet wird - sondern vielmehr um das wie. Denn wenn Suizide in den Medien außer in Ausnahmen kaum behandelt werden, führt das zu Stigmatisierung. Zum Vergleich: Verkehrstote gab es 2020 in Deutschland rund 3.000, dreimal so viele Suizide. Doch wer regelmäßig Zeitung liest oder Radio hört, wird schnell den Eindruck bekommen, dass Selbsttötungen im Vergleich zu Autounfällen gar nicht vorkommen. Dass es ein Thema ist, über das wir nicht reden müssten. Und genau da kommt der Papageno-Effekt ins Spiel. Dieser steht dem Werther-Effekt entgegen und spielt auf die Figur Papageno aus Mozarts Zauberflöte an, der seine Suizidgedanken durch Mithilfe von anderen überwinden konnte. Studien der MedUni Wien zeigen, dass die richtige Berichterstattung über Suizide genau das Gegenteil des Werther-Effekts hervorrufen, auch enttabuisierend und präventiv wirken kann. Dabei ist es jedoch wichtig, nicht einzelne Suizide im Detail zu beschreiben, im schlimmsten Falle zu romantisieren, sondern das Thema an sich zu behandeln und aufzuklären. Betroffene nicht durch diskriminierende Worte wie “Selbstmord” zu Täter:innen zu machen und statt einer Quasi-Anleitung für suizidale Menschen, Beratungsstellen und Hilfsmöglichkeiten (auch für Angehörige) aufzeigen. Menschen, die selbst in einer schweren Krise gesteckt und es rausgeschafft haben, müssen eine Stimme bekommen. Denn nicht nur Verzweiflung lässt sich übertragen - sondern auch Hoffnung. 

In Zeiten, in denen wir viele Stunden am Tag mit Medien verbringen, muss so einem gesellschaftlich relevanten Thema wie Suizid in angemessener Form, sowohl in Online-Medien, im Fernsehen, im Radio und in Zeitungen, der nötige Platz eingeräumt werden. Und zwar nicht nur dann, wenn wieder eine Netflix-Serie wie “13 Reasons Why” heiß diskutiert wird oder wenn sich eine bekannte Person das Leben nimmt. Nur so schaffen wir es auch, dass das Thema in der Gesellschaft ankommt, dass Betroffene sich eher Hilfe holen, dass Angehörige Anzeichen vielleicht früher erkennen können und Hinterbliebene sich mit ihrer Trauer etwas weniger alleine fühlen. Obwohl der Papageno-Effekt seit 2017 auch Teil der Medienempfehlungen der WHO ist, fürchten sich viele Journalist:innen immer noch vor dem Werther-Effekt. Die Aufklärung über den Papageno-Effekt und eine gute Berichterstattung über Suizid stehen hinten an, nicht zuletzt, weil das Gegenteil seit Jahrzehnten suggeriert und vorgelebt wurde. Das muss sich ändern - wir müssen lernen, Suizid zu enttabuisieren. 


Hilfsangebote und Anlaufstellen

Telefonseelsorge der Deutschen Depressionshilfe rund um die Uhr und kostenfrei unter 0800-111 0 111 oder 0800-111 0 222.

Telefonseelsorge Notruf unter 142.

Die App Krisen Kompass 



Leitfaden zur Berichterstattung über Suizid: https://www.vsum.tv/wp-content/uploads/2020/08/Leitfaden_zur_Berichterstattung_ueber_Suizid_2019.pdf


Quellen:

https://www.derstandard.at/story/1282979684927/mediale-berichterstattung-suizidpraeventiver-papageno-effekt

https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2011-11/suizid-medien/seite-2

https://de.wikipedia.org/wiki/Werther-Effekt

https://oe1.orf.at/artikel/667215/Suizidpraevention-Lasst-uns-reden

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