Zwischen Versuchung und Verantwortung – Was Temptation Island über unser Männerbild verrät
Jana | 07.11.2025
In einer Reality-Show spricht ein Mann davon, dass er Versorgung, Schutz und Führung übernehme – während seine Partnerin eine Beziehung auf Augenhöhe anstrebt. Was unterhaltsam wirkt, zeigt, wie tief alte Rollenbilder noch immer in uns verankert sind.
Der Satz, der hängen bleibt
Gleich zu Beginn der neuen Staffel Temptation Island VIP wird über die Grundlage einer Beziehung gesprochen – über Rollen, Verantwortung und darüber, wer führt oder Entscheidungen trifft. Ein Teilnehmer beschreibt, dass er sich in der Rolle des Versorgers und Beschützers sehe, als jemand, der Risiken abwägt und die Richtung vorgibt.
Das Konzept der Show basiert darauf, dass Paare getrennt voneinander mit Verführer:innen in Villen leben – um ihre Liebe zu testen. Tatsächlich zeigt das Format aber oft eher, wie unterschiedlich Männer und Frauen Nähe, Vertrauen und Kontrolle verstehen.
Später kommt das Thema erneut auf, diesmal in einem Gespräch mit einer der Verführerinnen. Sie ordnet diese Haltung einem kulturellen Hintergrund zu, in dem diese traditionellen Rollenbilder stark verankert seien, und stellt die Frage, ob seine Partnerin diese Rolle überhaupt so erfüllen möchte.
Zwei Gespräche, zwei Perspektiven – und beide spiegeln, wie präsent das Bild des „führenden Mannes“ bis heute ist.
„Das Bild vom ,richtigen Mann', der stark ist, entscheidet und trägt, scheint uralt - doch es ist erstaunlich jung.“
Ein Bild, das es so nie gab
Diese Szenen wirken vertraut, nicht weil die Aussagen der Wahrheit entsprechen, sondern weil sie sich so selbstverständlich anfühlen. Das Bild vom „richtigen Mann“, der stark ist, entscheidet und trägt, scheint uralt – doch es ist erstaunlich jung.
In frühen Jäger- und Sammlergesellschaften herrschte, wie zahlreiche anthropologische Forschungen nahelegen (u. a. Sarah Hrdy -
The Cooperative Breeding Model, Christopher Boehm -
Hunter-Gatherer Egalitarianism), meist Kooperation statt Hierarchie. Macht und Verantwortung waren geteilt, Aufgaben verteilten sich nach Können, nicht nach Geschlecht.
Das Modell des alleinigen Ernährers entstand erst Jahrtausende später – nicht aus Natur, sondern aus Struktur. Erst Eigentum, Besitz und Gesetz schufen den Rahmen, in dem sich Hierarchien verfestigten.
Wie das System den Mann schuf
Patriarchale Strukturen gab es schon lange vor der Moderne – Besitz, Recht und Macht waren vielerorts männlich geprägt. Doch erst die Industrialisierung und später das Nachkriegs-Wirtschaftswunder formten daraus das Rollenbild, das wir heute kennen: den Mann als alleinigen Ernährer und obersten Entscheider im Privaten.
Gesetze, Löhne und gesellschaftliche Erwartungen gaben ihm diese Position. Noch unsere Großmütter durften nur mit der Unterschrift unserer Großväter arbeiten. Finanzielle Freiheit war kein Mangel an Wille, sondern an Erlaubnis. Und genau dieses juristische Machtgefälle verwechseln viele bis heute mit einem Naturgesetz.
Wenn Privileg zur Identität wird
Heute, wo Frauen finanziell und gesellschaftlich bis zu einem gewissen Grad unabhängig sind, fehlt Männern diese systemische Bestätigung. Viele erleben das als Bedrohung – und suchen Halt in alten Mustern: „klassische Rollenverteilung“, „maskuline Energie“, „Beschützerinstinkt“. In Social-Media-Bubbles kursieren ganze Männlichkeits-Coachings, die versprechen, „wahre männliche Energie“ zurückzugewinnen. Podcasts, YouTube-Kanäle und Reels sprechen davon, dass Männer wieder „führen“ müssten, um ihre „natürliche Rolle“ einzunehmen. Die Sehnsucht nach Autorität ist dort meist größer als das Verständnis von Partnerschaft. Dabei geht es oft nicht um Natur, sondern um Orientierung. Wer sein Selbstbild jahrzehntelang über Macht und Versorgung definiert hat, steht plötzlich ohne beides da.
Führen heißt fühlen
Hier scheint das eigentliche Problem zu liegen: Wir verwechseln Führen mit Herrschen. Ein guter Anführer trifft keine Entscheidungen für sie, aber in ihrem Sinne. Dazu gehört, Bedürfnisse wahrzunehmen, Emotionen zu verstehen und Verantwortung zu teilen – Qualitäten, die traditionell als „weiblich“ gelten. Doch Empathie ist kein weiblicher Instinkt, sondern eine menschliche Fähigkeit.
In der zweiten Folge von Temptation Island wird deutlich, wie eng emotionale Zurückhaltung noch immer mit Männlichkeit verknüpft wird. Mehrere Männer sprechen davon, dass ein Mann an Stärke verliere, sobald er zu viel Liebe zeige oder seiner Partnerin zu sehr hinterherlaufe – als wäre Hingabe ein Zeichen von Schwäche.
Interessant ist, wie wenig Zustimmung diese Haltung bei den Frauen findet: eher Irritation, manchmal offene Ablehnung. Eine Teilnehmerin meint sinngemäß, es sei sogar wichtig, dass der Mann mehr liebe.
Dieser Moment zeigt, wie brüchig die alte Fassade geworden ist.
Was früher als Stärke galt – Distanz, Kontrolle, Abwehr – wirkt heute eher wie Unsicherheit in Verkleidung. Wenn Liebe als Schwäche gilt, hat Stärke ihren Sinn verloren.
Was Jungen lernen müssten
Vielleicht liegt genau hier der Schlüssel: Jungs werden oft umsorgt, doch kaum dazu ermutigt, selbst Fürsorge zu zeigen. Sie lernen, dass Stärke bedeutet, keine Schwäche zu zeigen – und dass Fürsorge nichts mit Männlichkeit zu tun hat. Aber wie soll jemand Verantwortung tragen, der nie gelernt hat, sich in andere einzufühlen? Wenn Männer führen wollen, müssen sie zuerst lernen, zu fühlen.
Stärke neu denken
Es geht nicht darum, Männern ihre Stärke abzusprechen, sondern sie neu zu definieren. Stärke ist nicht Kontrolle. Stärke ist Empathie. Und vielleicht ist genau das die wahre Versuchung – nicht auf
Temptation Island, sondern im echten Leben: Menschlich zu sein, statt maskulin.
