vonnichtsgewusst

Wie immer von nichts gewusst

Phil | 15.07.2021

Disclaimer: Features vertreten nicht unbedingt die Meinung des BUUH!-Teams, sondern dienen dazu, Gastautor*innen eine Plattform zu Themen zu liefern, die sie bewegen.


Es war Juni, was natürlich bedeutet, dass Pride Month war.  Juni ist deswegen der Monat, in denen Firmen wie VW, BMW und Hugo Boss entscheiden, ihre alten Hakenkreuzbinden im Keller weiter verstauben zu lassen und sich dieses Jahr wieder für 30 Tage mit dem Regenbogen schmücken werden.   

Die Ironie an der ganzen Sache hierbei ist zweigeteilt: Einerseits ist es auf sehr, sehr zynische Art und Weise lustig, dass die sich so neutral gebende “Mitte” mehr über die Existenz und Rechte von LGBTQIA+-Menschen aufregt, als über die Nazivergangenheit von Firmen (oder ihrer eigenen Familie). Dass queere Inhaftierte in den Konzentrationslagern Deutschlands oft auch nach der Niederlage Deutschlands ihre Strafe noch absitzen mussten, ist einfach nur eine Fußnote der Geschichte, wenn man selbst nicht betroffen ist. Andererseits ist es einfach nur widerlich, dass der Pride Month mittlerweile zu einem kapitalistischen Konsumfest verkommen ist – für Linksliberale und Teile der “Mitte” natürlich. Denn wenn deine Existenz oder dein Überleben nicht wirklich gefährdet ist, dann freut dich auch ein Regenbogenlogo von VW. Aber was sind denn die Sachen, von denen die deutsche “Mitte” mal wieder nichts gewusst hat? Erst einmal natürlich das Naheliegendste. Der Grund, warum der Juni eigentlich zum Pride Month

wurde. Heutzutage, vor allem in diesen scheinpolitischen linksliberalen Kreisen, ist Pride ein wunderbar unpolitischer Monat, in dem man sich selbst dafür feiert, dass unterdrückende Strukturen so viel besser zu ertragen sind, wenn die Unterdrückenden diverser sind – nicht mehr nur reiche, weiße cis Männer. Es ist die überwiegende Meinung, wenn man sich den Bezug zum Pride Month

ansieht, dass er unpolitisch, freundlich und allen unbedingt zugänglich gefeiert werden soll. Auch wenn Pride auf einen Riot zurückgeht: ein gewaltsames Aufbegehren gegen Polizeigewalt, queer-Feindlichkeit und Unterdrückung – die berühmten Stonewall Riots in der Christopher Street, New York.

Aber das Leben kann so einfach unpolitisch sein, wenn man mal wieder von nichts gewusst hat. Und queere Menschen sollen sich dem doch auch bitte unterordnen. Auch wenn Pride hauptsächlich gefeiert wird, weil sich queere Menschen eben nicht mehr länger unterordnen wollten. Aber es haben die meisten (cis) Menschen natürlich einfach von nichts gewusst.

Außer, es ist den Wahlerfolgen mancher Parteien zuträglich (Hi, CDU/CSU, ja moin SPD, uff FDP), denn dann wird natürlich schnell ein Selfie mit Regenbogenflagge hochgeladen, nachdem ein menschenverachtendes “Transsexuellenschutzgesetz” beschlossen wird oder halt auch mal überwiegend gegen die so schein-inklusive “Ehe für alle” gestimmt wird.

Dafür, dass das schwarz-rot-geile Kaltland ja eigentlich mal ein weltweiter Vorreiter in Sachen queere Sexualität, queere Sexualforschung und der Akzeptanz von nicht- heteronormativen Lebensstilen war. Damals, in den knapp 20 Jahren zwischen schwarz- weiß-roter Diktatur (monarchisch-gottgewollt) und der zweiten schwarz-weiß-roten Diktatur (faschistisch und noch menschenverachtender).

Mit Magnus Hirschfeld und dem Institut für Sexualwissenschaft hat Kaltland einen grundlegenden Bestandteil für (westliche) queere Bewegungen und Akzeptanz vorzuweisen. Ein kleiner Lichtblick in dem Abgrund der Geschichte dieses Fetzen Lands. Auch der erste “Schwulenfilm” der Geschichte, Anders als die Andern, ist in Kaltland gedreht worden. Auch vorher gab es schon statistische Erhebungen und Forschungen zu queeren Menschen hier in diesem Fetzen Land, was eigentlich für eine längerfristige Akzeptanz durch das kollektive Gedächtnis hätte sorgen können. Hat es aber nicht, denn man hat natürlich von nichts gewusst. Mal wieder. Denn bis auf diese kleinen Lichtblicke ging es danach noch steiler bergab als vorher. Die Verachtung, die Hetze, die Kriminalisierung wurde ins Unermessliche gesteigert – kulminierend darin, dass queere Inhaftierte in den deutschen KZs oft nach der Niederlage Deutschlands ‘45 ihre Strafen zu Ende absitzen mussten.

Es hat sich erst in den letzten Jahrzehnten wirklich etwas getan, aber nicht von der Mehrheitsgesellschaft initiiert, sondern von queeren Menschen selbst. Durch ihren gerechtfertigten Zorn, durch Wut, durch Demos und Aufstände – Militanz im besten Sinne. Denn wie schon ‘45 muss der Fetzen Land, auf den der Begriff Kaltland so gut passt, eben mit Militanz dazu gebracht werden, in der Hoffnung, dass aus der Niederlage was besseres gemacht werden kann. Alles Gute in der Menschheitsgeschichte wurde erkämpft von denen, die unterdrückt wurden, denen, die leiden mussten. Und nicht von der Mehrheitsgesellschaft, die ja so oft profitiert hat. Aber es gibt jetzt wenigstens die Möglichkeit, wieder gut zu machen, was falsch gelaufen ist und immer noch falsch läuft. Dafür muss man aber wissen, was passiert ist. Die Zeit ist vorbei, von nichts gewusst zu haben und damit durchzukommen.

(Mir ging es genauso, als weißer cis Mann, der sein Leben lang von Systemen profitiert).

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