theoretie der zwei klassenmedizin


Eine kurze Theorie der
Zwei-Klassen-Medizin


Oscar | 09.03.23

Die Covid-19-Pandemie dominierte in den letzten zwei Jahren die öffentliche Debatte in der Gesundheitspolitik. Durch die Pandemie wurden einige schon länger existierende Versäumnisse in den weltweiten Gesundheitssystemen erkennbar. Besonders offensichtlich wurden in Deutschland Mängel in der Pandemievorsorge, bei der Finanzierung und Kapitalausstattung der Krankenhäuser und in der Digitalisierung. In der Konsequenz wurden von allen politischen Parteien Änderungen am deutschen Gesundheitssystem vorgeschlagen. Manche dieser Änderungen sind strukturell, wie die digitale Patientenakte, und werden vom Staat vorangetrieben, andere Änderungen betreffen Innovation und Forschung und sollen mithilfe von Subventionen und Anreizprogrammen durch den privaten Sektor umgesetzt werden. Alle Parteien waren sich einig, dass viel zu tun sei, um diese kritische Infrastruktur ins 21. Jh. zu bringen. Jedoch wurde, angesichts dieses pandemischen Hintergrundes, die Forderung nach einer Reform der Krankenversicherung in der Bundestagswahl 2021 nicht so vehement gestellt wie noch bei der Bundestagswahl 2017. 

Dabei sprächen einige gute Gründe dafür, das duale System aus Privater Krankenversicherung (PKV) und gesetzlicher Krankenversicherung (GKV) entscheidend zu verändern. Im Volksmund und in der politischen Rhetorik hat sich das Stichwort der „Zwei-Klassen-Medizin“ etabliert. Auf der einen Seite ist diese simple Zuspitzung ein Produkt des politischen Populismus, auf der anderen Seite liegt ihr aber auch ein ernsthaftes öffentliches Empfinden zu Grunde. 

Das Prinzip einer jeden Versicherung ist ein gewisses Maß an „Risiko-Pooling“. Die Idee dahinter ist so simpel wie genial: Niemand kann wissen, wie groß sein eigenes Risiko zu erkranken tatsächlich ist. Alle zahlen deshalb in einen gemeinsamen Fond ein, der dann die Kosten im individuellen Krankheitsfall trägt. Natürlich gibt es Faktoren, die das Risiko zu erkranken massiv erhöhen können. Dazu zählen Rauchen, der Genuss von Alkohol oder ein Mangel an regelmäßiger Bewegung. Ein trinkender Raucher, der den ganzen Tag nur herumsitzt, hat vermutlich ein höheres Risiko, eine Krankheit zu bekommen. Natürlich sind all diese Informationen erst einmal privat und gehen niemanden etwas an. Am Ende wird es jedoch im statistischen Mittel dazu kommen, dass der hypothetische trinkende Raucher am meisten aus dem gemeinsamen Topf benötigen wird, um seine Arztrechnungen zu bezahlen.


Und genau hier beginnt die Politik. Auf die Frage, ob diese ungesund lebende Person auch mehr zum Topf beitragen soll oder nicht, geben der Staat und der Markt zwei unterschiedliche Antworten. Aus der Folge dieser Antworten lässt sich die „Zwei-Klassen-Medizin“ gut erklären. Der Staat ist nach Artikel 20 des Grundgesetzes „sozial“ und darf den Zugang zu Medikamenten gegen Lungenkrebs nicht teurer machen, selbst wenn der Versicherte raucht. Umgekehrt darf er auch nur beschränkt Rabatte für einen gesunden Lebensstil geben. Aus diesem Grund zahlt der Raucher genau denselben Beitrag wie der Nichtraucher und entnimmt doch im Laufe seines Lebens mehr aus dem Versicherungstopf. In der egalitären, solidarischen Versicherung wird der Raucher vom Nichtraucher subventioniert. Diese Subvention mag an anderer Stelle wieder ausgeglichen werden. Jedoch wird es immer “junge, gesunde” Menschen geben, die “Alte und Ungesunde” durch ihre Beiträge stützen. Im Endeffekt wirkt sich diese Ineffizienz negativ auf die Profitabilität der GKV aus. 

Die PKV hat deutlich mehr Spielraum, ihre Versicherten für deren vermeidbare Risiken bezahlen zu lassen als die GKV. Und mit dem Alter, dem generellen Treiber für Krankheitsrisiko, steigt der PKV-Beitrag. Dies erhöht die Wettbewerbsfähigkeit der PKV und ihre Profitabilität. Bildlich gesprochen kann dadurch die PKV deutlich profitablere Wetten abschließen als die GKV, die immer dazu „gezwungen“ ist, jede Wette zum selben Einsatz anzunehmen. Diese Preisdiskriminierung gegenüber riskanteren Versicherungsnehmer*innen schafft einen natürlichen Anreiz für die riskantesten Patienten, sich in der GKV zu konzentrieren und steigert so noch zusätzlich die Kosten für die GKV. 

Unglücklicherweise erlaubt die gesteigerte Profitabilität der PKV den Ärzt*innen, zu besseren Konditionen Leistungen abzurechnen. Auf diese Weise haben Ärzte in Regionen mit einem großen Anteil von PKV-Versicherten einen Anreiz, sich vornehmlich auf dieselben zu spezialisieren. Die PKV wird mehrheitlich von Selbstständigen und Angestellten von großen Firmen, sowie von Privatiers gewählt, die wiederum mehrheitlich in Städten wohnen. Damit wohnen die profitabelsten Patienten in Städten, was wiederum jungen Ärzten einen Anreiz gibt, ihre erste Praxis auch dort zu eröffnen und so den Ärztemangel auf dem Land noch zusätzlich anzutreiben. 


Ein System,

 in dem alle gleich schlecht behandelt werden, würde definitiv Nostalgie wecken

Am Ende dieser Kette bleiben wenig Ärzte auf dem Land, was wiederum den Zugang und die Wartezeit für die dort lebenden GKV-Versicherungsnehmer*innen verschlechtert. Allerdings sieht es in der Stadt auch nicht besser aus. Hier orientieren sich Ärzte an PKV-Nehmer*innen und verschlechtern so Zugang und Wartezeit für GKV-Nehmer*innen. Besonders frappierend ist dieser Effekt bei Ärzt*innen, die wenig Routineuntersuchungen durchführen und deshalb vergleichsweise wenig bei der GKV erstattbare Behandlungen anbieten. Wer schon einmal versucht hat, in einer deutschen Großstadt einen Hautarzt-Termin zu machen, weiß, wovon ich spreche. Die Praxis sieht aus wie ein Wellness-Tempel und es wird wirklich alles angeboten, außer einer Sprechstunde. 

Kürzlich versuchte ich über die Website „Doctolib“ einen Termin zu ergattern. Unter Angabe meiner Versicherungsart wählte ich „GKV“ und mir wurde prompt ein Termin einige Monate später angeboten. In der Regel zahle ich dann selbst, wenn es sich um eine kurze Sprechstunde handelt. Also wechselte ich den Filter zu „PKV oder Selbstzahler“ und siehe da, derselbe Arzt bot mir einen Termin in derselben Woche an. Wie stark dieser Effekt ist, hängt von Faktoren wie dem Fachgebiet des Arztes oder der Saison ab. Nichtsdestotrotz beschreibt dieses Beispiel gut, warum in der politischen Debatte die Zwei-Klassen-Medizin immer wieder diskutiert wird. 

Wie könnte man diese Kette unterbrechen? Dass ein zentralisiertes Gesundheitssystem ebenfalls Probleme mit sich bringen kann, können wir bei unseren Nachbarn in Großbritannien und Frankreich beobachten. Frankreich hat ein beitragsfinanziertes Ein-Versicherungssystem (Assurance Maladie), wohingegen Großbritannien einen vollständig aus der öffentlichen Hand finanzierten nationalen Gesundheitsdienst (National Health Service) hat. Beide Systeme sind chronisch unterfinanziert und baufällig, bis auf wenige Krankenhäuser in den jeweiligen Hauptstädten. Ein System, in dem alle gleich schlecht behandelt werden, würde definitiv Nostalgie wecken, kann jedoch kein Entwurf für das 21. Jh. sein.

Viel wichtiger wäre es, Ärzt*innen den Anreiz zu nehmen, sich auf Privatpatienten zu spezialisieren, indem man die ungleiche Vergütung derselben Leistung beendet. Auf diese Weise würde der Anreiz zur Landflucht reduziert werden. Zusätzlich könnte man die Möglichkeiten, auf Basis von Informationen über den einzelnen Versicherten den individuellen Beitrag anzupassen, einschränken. Dies würde Wettbewerbsbedingungen zwischen der GKV und der PKV angleichen und die Profitabilität der PKV reduzieren. Am Ende liegt der Sinn einer Versicherung darin, ein individuelles Risiko auf viele Schultern umzuschichten und nicht darin, dass jeder genau sein eigenes Risiko trägt. Dann könnte man auch einfach den Sparstrumpf als Krankenversicherung verwenden und wäre genau so gut dran. 

Die Gesellschaft als solche und der Staat als ihr Repräsentant haben eine Verantwortung dafür, an einem gesunden Lebenswandel ihrer Mitglieder zu arbeiten und sich einander gegenüber solidarisch zu verhalten. Der Hauptanreiz zum gesunden Leben kann aber nicht in einer Drohung mit dem Entzug oder der Überteuerung von Gesundheitsversorgung bestehen. Aus diesem Grund liegt die Lösung für das oben geschilderte Problem auch nicht in der Privatisierung des Gesundheitssystems wie z.B in den USA. Politiker sagen gerne, Gesundheitsversorgung sei ein Grundrecht. Dem schließe ich mich unumwunden an.

Warum nur haben wir dieses Recht in Deutschland so unbequem verbogen?



Quellen


Grunow, M. and Nuscheler, R. (2014), PUBLIC AND PRIVATE HEALTH INSURANCE IN GERMANY: THE IGNORED RISK SELECTION PROBLEM. Health Econ., 23: 670-687. 

Werbeck, Anna, Ansgar Wübker, and Nicolas R. Ziebarth. "Cream skimming by health care providers and inequality in health care access: Evidence from a randomized field experiment." Journal of Economic Behavior & Organization.



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