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Wir müssen über Rammstein reden!

Über Groupies, Machtmissbrauch und das Patriarchat der Rockmusik

Julia | 01.01.24

Es war das Me-Too des Deutsch-Rocks: Im Sommer 2023 erhoben zahlreiche Frauen in den sozialen Medien ihre Stimmen gegen die Band Rammstein, genauer gesagt gegen den Leadsänger Till Lindemann. Inspiriert durch den Mut der Irin Shelby Lynn, die davon  berichtete, von Lindemann unter Drogen gesetzt worden zu sein, erzählten die Frauen von Drogen, Vergewaltigungsversuchen, einem systematischen Frauen-Casting und einer sogenannten Row Zero.

Dass Lindemann von allen Anklagepunkten freigesprochen wurde, hinterließ nicht nur Wut und Ungläubigkeit bei vielen betroffenen und solidarischen Frauen, sondern auch das dringende Bedürfnis, weiterhin darüber zu sprechen. Wie kann es sein, dass zig Frauen das Gleiche erzählen und immer wieder dieselben Namen nennen? Wie kann sich ein einzelner Mann scheinbar ein System des Machtmissbrauchs aufbauen, in dem Frauen in WhatsApp-Gruppen und bei Konzerten ausgewählt werden, um anschließend Till Lindemann präsentiert zu werden? 

 

Der Fall Rammstein macht deutlich, dass zwischen Lindemann und den Frauen, die ihre Stimmen erhoben haben, ein Machtgefälle vorliegt. Um dieses Machtgefälle aber etwas besser zu verstehen, möchte ich einen kurzen Exkurs zum Begriff und Verständnis von Groupies vornehmen. 1969 veröffentlichte die Zeitschrift Rolling Stone den Artikel „Groupies and other Girls“. Dieser Artikel eröffnete nicht nur die Subkultur Groupie, sondern gilt auch als Wegweiser für das Verständnis und die Darstellung von Groupies. In frauenfeindlicher Weise wurde darin die Identität des Groupies sexualisiert und von da an nicht weiter verhandelt. Und mit dieser Etikettierung wurden auch die Handlungen von Frauen, die sich selbst nicht als Groupie bezeichnen würden, auf eine singuläre, vom weiblichen Geschlecht bestimmte Erfahrung reduziert. Folglich beeinflusst diese Etikettierung nicht nur die äußere Wahrnehmung von Frauen in der Rockmusik, sondern erhält auch die geschlechtsspezifischen Normen innerhalb der Szene aufrecht, um Frauen von kreativen Prozessen auszuschließen.




„Von Frauen wird erwartet, die Verantwortung für das sexuelle Begehren von Männern zu übernehmen, es zu steuern und sich dem Begehren anzupassen.“

Frauen, die die Strukturen hegemonialer Männlichkeit für sich selbst beanspruchen und sich selbst als Groupie definieren, weil sie sich zu Musikern hingezogen fühlen, handeln selbstbestimmt. So ist es nur logisch, dass das Konstrukt Groupie neben der sozialen Abwertung auch durch Berichte verschiedener Frauen eine Romantisierung erfahren hat. Doch waren Übergriffe und Machtmissbrauch nicht weit: So bestätigen Berichte von zwei Frauen, die 1972 im Privatjet der Rolling Stones unter Beifall entkleidet und bedrängt wurden, eben genau die Machtausübung und chauvinistische Willkür, die Frauen im heteronormativen Machtkonstrukt der Rockmusik drohen kann. Dabei können zwischen einem netten Gespräch und dem beschriebenen Szenario im Privatjet der Rolling Stones nur wenige Momente liegen. Alle männlichen Rockstars haben eines gemeinsam: Macht. Und genauso wie Jungs lernen, sich zu nehmen, was sie wollen, werden Mädchen auch heute noch dazu erzogen, dass ihr Wert von männlicher Bestätigung abhängen. Frauen werden darauf vorbereitet, mit Gewalt von Männern umzugehen und die Möglichkeit von Gewalt immer miteinzubeziehen, während das Verhalten der Männer als Eroberer von Frauen und Jäger nach Sex normalisiert wird. Von Frauen wird erwartet, die Verantwortung für das sexuelle Begehren von Männern zu übernehmen, es zu steuern und sich dem Begehren anzupassen. Sobald Frauen aber Opfer eines Übergriffs werden, müssen sie gemäß weit verbreiteter gesellschaftlicher Ansicht auch dafür die Verantwortung übernehmen.

 

So werden Missbrauchsvorwürfe schnell als Lügen abgetan, weshalb es für Frauen umso schwerer ist, Gehör zu finden. Ganz unabhängig davon wird es nicht einfacher für Frauen, die als Groupie einer Rockband deklariert werden oder sich selbst als Groupie bezeichnen. Schließlich kämpfen Groupies nicht nur mit den Machtstrukturen gegen andere Frauen, – die in der Rockmusik umso breiter gefächert sind – sondern sie kämpfen auch noch mit Vorurteilen innerhalb der eigenen Fangemeinde, die ihre Verhaltensweise und Lebensart abwertet und degradiert.

Nun aber zurück zu Rammstein: Nachdem Shelby Lynn im Mai 2023 als erste Frau gegen Rammstein aufstand und davon berichtete, dass sie von Till Lindemann und Co. unter Drogen gesetzt worden war, erhoben viele weitere Frauen in den sozialen Medien ihre Stimmen und erzählten von ähnlichen Geschehnissen: Von Partys in den Hotelzimmern der Rockstars mit nur lückenhaften Erinnerungen, von der Row Zero (eine Reihe von ausgesuchten Frauen unter 25 direkt vor der Bühne) und von Castings, die die besten Kandidatinnen für Lindemann hervorbringen sollten. Noch vor den Konzerten seien die Frauen teilweise fotografiert worden. Wenn das Outfit, das sie trugen, Lindemann nicht gefiel, hätten sie neue Klamotten erhalten: schwarz, sexy und kurz sollten die Outfits sein – keinesfalls im Rammstein-Fan-Shirt. Als die Vorwürfe der betroffenen Frauen immer mehr Reichweite erlangten und zahlreiche Zeitungen und Nachrichtendienste die Anschuldigungen ab Juni 2023 publizierten, bildeten sich schnell zwei Lager: Fans, die Rammstein weiterhin den Rücken stärken wollten, standen Feminist*innen und anderen Menschen gegenüber, die die Betroffenen unterstützen. Die meisten Fans waren sich einig, dass sie nichts glauben würden, was nicht hundertprozentig bewiesen sei. Die Fans standen weiterhin zu ihrem angehimmelten Idol, besuchten dessen Konzerte und suchten den Fehler nicht bei Rammstein, sondern vielmehr bei den Frauen, die ja freiwillig Teil der Row Zero sowie Teil der Aftershowpartys gewesen seien. Fans gaben an, dass frau wissen solle, worauf mensch sich einließe, dass sexuelle Beziehungen bei Partys die Norm und die Vorwürfe gegen Rammstein nicht ernstzunehmen seien.   


Die Loyalität der Fans und das Selbstverständnis der Band Rammstein sind brandgefährlich: Denn zwischen dem Star auf der Bühne und den jubelnden Fans herrscht immer ein Machtgefälle. Noch drastischer wird diese Verschiebung, wenn die Fans das Bedürfnis haben, dem Star nahe zu kommen. Wenn es sich bei den Fans, die Nähe suchen, aber auch noch um Frauen handelt, die sowieso als Gruppe von patriarchalen Strukturen marginalisiert werden, die aber gleichzeitig Liebe und Hingabe für ihren Star empfinden, wird das Machtgefälle besonders groß. Was passiert, wenn dieses Machtgefälle ausgenutzt wird?


Im Endeffekt würde doch jeder große Fan gerne zu einem Treffen mit seinem Idol gehen. Und eine Einladung zu einer Party ist noch lange keine Einladung zu einer Orgie.


„Was haben die Frauen denn bei Rammstein erwartet?“, haben Fans ihrerseits vorwurfsvoll gefragt, wodurch sich direkt ein Widerspruch ergibt. Schließlich sollen laut der Fans Kunst und Künstler getrennt betrachtet werden – wenn die Frauen aber genau dies tun, wird es ihnen zum Vorwurf gemacht. So wäre die traumatische Erfahrung ja nicht passiert, wenn sie alles richtig gemacht hätten.

Diese Kontrollerwartung bringt Frauen dazu, sich für den Vorfall zu schämen. Wären die Frauen nicht in die Row Zero gegangen, wäre nichts passiert. Hätten sie nicht ihr Idol treffen wollen, hätte es keine Probleme gegeben. Somit werden Frauen, die sich mit Till Lindemann getroffen haben und ihre Stimme gegen ihn erheben, mit der gesellschaftlichen Scham des victim blamings und victim shamings konfrontiert. Das bedeutet, dass ihnen zum einen die Schuld an den Vorfällen zugesprochen und  ihnen außerdem noch ein schlechtes Gewissen dafür eingeredet wird. Gleichzeitig werden sie mit der außerordentlichen Macht des Rockstars, den sie nicht verärgern wollen, konfrontiert. Diese Umstände ermöglichen es Lindemann, sich potentiell alles zu nehmen, was er möchte, da die Frauen sehr wahrscheinlich nichts davon preisgeben werden. Zudem bietet das Showbusiness perfekte Bedingungen, unter denen kriminelles Verhalten straffrei geschehen kann. Dies wird von den permanenten Ortswechseln begünstigt. Welche Staatsanwaltschaft ist für die Verfolgung etwaiger Straftaten zuständig? Wie sollen Beweise erhoben werden, wenn der potenzielle Tatort weiterzieht? Letztlich steht Aussage gegen Aussage, wobei immer der Star, dessen Prominenz Fans und Publikum blendet, im Vorteil ist.


Somit wird deutlich, dass es sich wohl nicht um Einzelfälle oder zufällige Situationen handelt, sondern offenbar um ein ausgeklügeltes System.  Immer wieder sprachen die Frauen in ihren Erzählungen von der Rekrutierungsarbeit von Lindemanns Team, der Wirkung von Alkohol, sowie der Aussicht auf Ereignisse wie eine Aftershowparty, die gar nicht zustande gekommen sei. Den jungen Frauen seien die Handys abgenommen worden und Partner*innen durften wohl nicht mitkommen. Sie seien hilflos gemacht und abgeschirmt worden und immer wieder äußerten sie den Verdacht auf bewusstseinsverändernde Substanzen.  Es handele sich dabei nach den Schilderungen um ein systematisches Casting von jungen Frauen, meistens zwischen 18 und 25 Jahren, die dem “Beuteschema” von Till Lindemann entsprechen würden und sogar für ihn zurechtgemacht worden seien. Es geht um WhatsApp-Gruppen, die die jungen Frauen schon Wochen vor den Konzerten auskundschaften und gefügig machen würden. Zudem scheinen wohl ein halbes Dutzend Mitarbeitende des Rammstein-Unternehmens involviert zu sein.  So soll Lindemanns Bodyguard für Lindemann sogenannte „Deutschland-Girls“ ausgesucht haben, die Lindemann während des siebenminütigen Zwischenspiels unter der Bühne oral befriedigen sollten. Gleich danach habe der Bodyguard versucht, die Frauen auch zu sich zu lotsen, weshalb in geleakten WhatsApp-Chats von „Fließbandarbeit“ gesprochen wird. 


Es handelt sich somit offenbar um ein System, in dem Lindemann hinter geschlossenen Türen
  das  für sich nutzen kann, wofür er  Groupies  hält: Frauen, die ihm für seine Wünsche zur Verfügung stehen.  Und all das wird geduldet. Vom wie bereits geschilderten gesellschaftlichen Selbstverständnis von Frauen, von  Groupies  und vor allem von den internen Strukturen des Rammstein-Unternehmens.  Und wie mensch gesehen hat, scheinen alle diese Frauen vor Gericht nicht die geringste Chance gegen die Rammstein-Maschinerie zu haben. Schließlich soll das Verfahren nicht wegen eindeutiger Unschuld von Seiten Lindemanns beendet worden sein, sondern weil sich die Frauen anscheinend nicht trauten, im gerichtlichen Prozess öffentlich gegen ihn auszusagen.

Wer da wohl die Fäden zieht? Schließlich spricht mittlerweile noch kaum jemand über die schrecklichen Erzählungen von mindestens einem Dutzend Frauen.  Die Medien scheinen den Skandal vergessen oder verdrängt zu haben und die Veranstalter*innen lassen Lindemann auf seiner Solo-Tour so viele After-Show-Parties ausrichten, wie er möchte. Quasi also alles beim Alten. Was wir aber dagegen tun können? Darüber sprechen und es uns vor Augen führen: Till Lindemann ist mächtig und er nutzt diese  Macht aus. Die Macht als Mann, die Macht des Patriarchats, die Macht als Rockstar, und die Macht eines ausgeklügelten Systems.




Quellen:


Anton, Julia/ Schwarz, Felix: “Ich mag die Musik, das zählt“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.06.2023,

URL: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/rammsteinvorwuerfe-um-till-lindemann-warum-fans-trotzdem-zum-konzert-gehen-18948290.html, abgerufen am 13.09.2023.


Biazza, Jakob et. al.: ”Am Ende der Show”, in Süddeutsche Zeitung, 02.06.2023,

URL: https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/kultur/till-lindemann-rammsteinmissbrauchsvorwuerfe-e316483/?reduced=true, abgerufen am 12.09.2023.


Biazza, Jakob et. al.: „Im Feuer: Neue Vorwürfe gegen Rammstein“, in Süddeutsche Zeitung, 17.07.2023,

URL: https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/politik/rammstein-tilllindemann-flake-keyboarder-vorwuerfe-e558010/?reduced=true, abgerufen am 12.09.2023.


Duffett, Mark: “Back in the Mix. Exploring Intermediary Fandom and Popular Music Production”, in Duffett, Mark (Hg): Popular Music Fandom. Identities, Roles and Practices, New York 2014, S. 151-152.


Ehrenreich, Barbara et al: “Beatlemainia: Girls just want to have fun”, in Lisa A. Lewis (Hg.): The adoring audience: Fan culture and popular media, London 1992, S. 69-83.


Gerrard, Ysabel: “Groupies, Fangirls and Shippers: The Endurance of Gender Stereotype”, in: American Behavorial Scientist 66(8), London 2021, S. 1045-1056.


Hentschel, Joachim: “Vorwürfe gegen Till Lindemann – Von Verführung und Gewalt“, in Süddeutsche Zeitung, 05.06.2023,

URL: https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/kultur/lindemann-groupies-sex-rammsteine421344/, abgerufen am 29.08.2023.


Hopkins, Jerry et al.: “Groupies and Other Girls”, in Rolling Stone, 15.02.1969, URL:
https://www.rollingstone.com/feature/groupies-gtos-miss-mercy-plaster-caster-75990/, abgerufen am 24.11.2023.


Minkmar, Nils: “Machtmissbrauch im Kulturbereich. Die große Show“, in Süddeutsche Zeitung, 06.06.2023,

URL: https://www.sueddeutsche.de/kultur/machtmissbrauch-kunst-undkultur-rammstein-1.5911345?reduced=true, abgerufen am 13.09.2023.


Nicholls, Tracey: “once upon a time…: rape culture is structural violence”, in Nicholls, Tracey (Hg.): Dismantling Rape Culture. The Peacebuilding Power of “Me Too”, London 2021, S. 26-67.


Von Blazekovic, Aurelie: “Frauen schweigen, dabei müssten sie schreien vor Wut“, Süddeutsche Zeitung, 22.06.2023,

URL: https://www.sueddeutsche.de/kultur/frauenbackstage-naiv-selbst-schuld-1.5951067?reduced=true, abgerufen am 13.09.2023.






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