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Wider das Feminist-Washing der Selbstsexualisierung: Frauen im Reggaeton 

Lilly | 11.10.2022

Spätestens seit Despacito zum „Sommerhit des Jahres 2017 gekürt“ und in den Clubs der Welt dazu getanzt wurde, sollte Reggaeton den meisten Menschen ein Begriff sein – wenn nicht wörtlich, dann zumindest musikalisch.” (falls nicht, könnt ihr euch hier schlau machen, es wird euch bekannt vorkommen). 



So einer der ersten Sätze meiner Bachelor-Arbeit, die sich Versprachlichungsstrategien der Sexualisierung im Reggaeton widmet. Das im Panama und Puerto Rico der 80er und 90er Jahre entstandene Genre ist ein Mix aus Reggae, Hiphop, Dancehall sowie diversen Latin-Einflüssen und ist neben seinem zum Tanz anregenden Rhythmus für anzügliche Inhalte und frauenfeindliche Lyrics bekannt.

Und auch, wenn die öffentliche Debatte aufgrund der Sprachbarriere in Deutschland und Europa im Vergleich zu spanischsprachigen Ländern eher klein ausfällt, so stolpert man doch ab und zu über mehr oder weniger kritische Beiträge zum Thema (z.B. https://www.stern.de/kultur/sexismus--j-balvins-musikvideo-fuehrt-zu-unmut-in-kolumbiens-regierung-30826784.html oder auch https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/reggaeton-latin-grammy-awards-nominieren-kuenstler-mit-sexistischen-songs). Aufgrund des vorherrschenden Konsens habe ich mir in meiner Arbeit nicht die Frage gestellt, ob Reggaeton ein Sexismus-Problem hat, sondern wie sich dieses in den Lyrics äußert. Ich könnte dazu jetzt auf alle möglichen Details aus Teilbereichen der Sprachwissenschaft eingehen, um zu erklären, wie welche Art von Metaphorik genutzt wird, um musiksprachlich Sexualisierung auszudrücken, werde euch dies nun aber aufgrund meines Wissens um meine Nerdigkeit ersparen. Interessanter ist an dieser Stelle wohl eher meine zweite Forschungsfrage und die Ergebnisse, die diese mit sich bringt. 

Während sich Reggaeton in den letzten zwei Jahrzehnten immer mehr in den Mainstream gemausert und auch mit anderen Genres vermischt hat (zum Beispiel verwendet Ed Sheeran den Dem-Bow Rhythmus in Shape of You, Popkünstler:innen kollaborieren vermehrt mit Reggaeton-Stars für Songs etc), haben sich gleichzeitig immer mehr Frauen in dem ursprünglich stark männlich geprägten Genre etabliert, wie KAROL G, Becky G oder Natti Natasha, um nur ein paar Namen zu nennen. Mich hat folglich interessiert, ob sich in Sprache sowie Aufmachung ihrer Songs Unterschiede zu denen der Männer feststellen lassen, sprich, ob sie mit Frauenfeindlichkeit brechen und für sich neue Narrative etablieren. Schließlich wäre das eine große Chance, nicht nur auf dem Musikmarkt, sondern auch aus einer Vorbildfunktion für viele junge Frauen heraus etwas zu verändern. 

Wenig überraschend allerdings ist das Gegenteil der Fall. In Songs wie Envolver von Anitta zeigt sich, wie Frauen sich den sexuellen Vorstellungen von Männern fügen: Y no te voy a envolver, Sé que lo hacemo' y tú vas a volver (volver), sinngemäß Übersetzt: ‘Ich werde dich nicht (in etwas) verwickeln, Ich weiß, wir tun es und du wirst wieder kommen’. Zwar beziehen sie eine weibliche Perspektive, es geht jedoch auch nur darum, wie sie es dem Mann am besten “machen” werden und wieso sie die unwiderstehlichste Frau auf Erden sind (Yo sé que no me vas a olvidar, Si te hago el amor - ‘Ich weiß, du wirst mich nicht vergessen, wenn ich es dir mache’)  Die Frau als Objekt der Begierde, mit dem gewissen Cool-Girl-Faktor, sodass die nervige Anhänglichkeit sowie Verbindlichkeit und damit Verantwortung ausbleiben. 

Inwiefern sich Reggaeton als Genre überhaupt von sexuellen Inhalten lösen kann oder will, ist eine andere Frage; Die erotische Konnotation hängt eng mit seiner Entstehungsgeschichte sowie mit kulturellen Aspekten zusammen. Zudem ist es vielleicht auch in Ordnung, dass ein Musikgenre sich dem Feiern, dem Ausgelassen sein, sich Berauschen, Flirten und damit einhergehend auch dem sich körperlich Näherkommen widmet. Fraglich ist jedoch, ob dies stets zugunsten des Male Gaze passieren muss. 

Schon in der Debatte um den skandalösen Song WAP von Cardi B und Meghan Thee Stallion im Jahr 2020 gab es an dieser Stelle unterschiedliche Positionen. Neben der Angst vor der Verrohung der Jugend von konservativer Seite gab es auch viele, die den Song als “empowernd” verstanden und darin einen feministischen Befreiungsschlag sahen. Frauen, die sich endlich auch mal dominant zeigen, sagen und sich nehmen, was sie wollen, laut, frivol, frech, derb. Die sich scheinbar zurückerobern, was ihnen durch Rollenbilder und gesellschaftlichen Druck sonst verwehrt blieb. Die nicht das tun, was sonst von ihnen erwartet wird. 

Durch die Beschäftigung mit Reggaeton ist mir allerdings klarer geworden, dass für viele weibliche Interpretinnen in der Popmusik überhaupt nicht relevant ist, ob das, was sie tun, Frauen zugute kommt oder nicht. Letztendlich sollte es nicht überraschen, dass es gerade im Mainstream meist weder um künstlerische Selbstverwirklichung, noch um Moral und Ethik geht, sondern um Geld und Ruhm. Ihre Vorbildfunktion ist vielen Frauen im Business vermutlich relativ egal. Verkauft es sich gut, wird es gemacht. Und was nicht nur im Reggaeton, sondern generell gilt, ist der Faktor “sex sells”. Es ist zudem viel einfacher, sich ins gemachte Nest zu setzen, sprich, sich freizügig und willig zu zeigen und damit Milliarden von Klicks zu generieren, als von feministischen Wertvorstellungen getrieben einen Kampf gegen Windmühlen zu führen. 

Ist es deswegen frauenfeindlich, als Frau in der Popmusik männlich geprägte Narrative zu erfüllen und weiterzuführen? Vielleicht nicht. Ist es feministisch? Auf gar keinen Fall.

Ich möchte keiner der Sängerinnen absprechen, dass sich ihre Art der Selbstdarstellung für sie empowernd anfühlt. Jedoch möchte ich davor warnen, die reine Existenz von Frauen in den Branchen als feministischen Fortschritt zu feiern. Frauen dafür zu verurteilen, dass sie das tun, was gesellschaftlich von Ihnen erwartet wird, liegt mir fern, trotzdem kann sich nur etwas ändern, wenn Frauen die Strukturen nicht mehr mittragen und reproduzieren (was nicht bedeutet, dass sie daran schuld sind). Und auch, wenn Cardi B und Meghan Thee Stallion durch Ihren Song offenlegen, dass auch Frauen einen offensiven Umgang mit Sexualität haben können, besteht die Gefahr, dass sie wiederum darauf reduziert werden. 

Im Reggaeton werden grundsätzlich kaum Inhalte thematisiert, die über oberflächliche Reize, Begegnungen auf Partys und wackelnde Hintern auf der Tanzfläche hinaus gehen, trotzdem gibt es da ein bestimmtes Machtgefälle: Männer dominieren Frauen. Sexuelle Fantasien werden ohne jeglichen Hinweis auf die Wünsche der Frauen ausgeführt, diese dienen gleichzeitig oft als Prämie im Machtkampf zwischen mehreren Männern (so z.B. El Clavo von Prince Royce und Maluma: Si esta noche tu novio te bota, Dile que tú no estás sola, Que tú estás conmigo, que yo sí te cuido, No como ese idiota zu dt. ‘Wenn dich dein Freund heute Nacht rauswirft, sag ihm, dass du nicht allein bist, dass du bei mir bist, dass ich mich um dich kümmere, anders als dieser Idiot’). Ähnlich wie die obligatorischen Drogen sind Frauen Rauschmittel, Unterhaltung und Dekoration im Sinne des Male Gaze, Beute um die animalischen Triebe zu stillen, ein ersetzbares Konsumgut zur einmaligen Verwendung. Denn an der nächsten Ecke wartet schon ein noch prallerer Hintern, der im Rhythmus hüpft und wackelt. 

Frauen drehen hier nicht das Narrativ um, indem sie die gleichen Sexualisierungsverfahren auf Männer anwenden (was auch schon fragwürdig wäre). Sie steigen in den Machtkampf ein, indem sie ihre sexuellen Fähigkeiten sowie ihr unwiderstehliches Äußeres zur Schau stellen. Sie kokettieren mit Rollenbildern und reduzieren sich selbst auf das Dasein als Sexobjekt. Immer bereit, immer geil – oder, nach Natti Natasha in Sin Pijama: Siempre he sido una dama, Pero soy una perra en la cama – ‘ich war immer eine Dame, aber ich bin eine Hündin im Bett’ (vgl. Auch Madonna-Whore-Complex). 

Es ist nichts falsches an Sexpositivität zu finden, davon kann allerdings nicht die Rede sein, wenn Frauen den Anschein vermitteln, dass sie nur dafür existieren, die Gelüste von Männern zu befriedigen. Anstatt mit Zeilen wie Si tú me llamas, Nos vamo' pa' tu casa, Nos quedamo' en la cama, Sin pijama (‘wenn du mich anrufst, gehen wir zu dir nach Hause, wir bleiben im Bett, ohne Pyjama) die eigene willenlose Verfügbarkeit zu besingen, wie wäre es, zu thematisieren, dass frau heute mal keine Lust hat? Dass frau es leid ist, Männern gefallen zu müssen und sich auf ihre eigenen Bedürfnisse konzentriert? Oder – ganz revolutionär – was es sonst noch so im Leben gibt, außer Männern? Nur so ein Gedanke.


Unsere Autorin Leni hat einen etwas anderen Blick auf das Thema. Lies das feministische Potenzial der Selbstsexualisierung, um ihre Perspektive kennenzulernen.

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