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Wertewandel im Sonderangebot – (Post)materialismus in konsumistischen Zeiten

Karla | 06.12.22

Sind wir wirklich so postmaterialistisch eingestellt, wie wir glauben? Ein Kommentar über Selbstverwirklichung im Konsumismus und die Widersprüche, die das mit sich bringt.

Es gibt viele verschiedene Arten einen Matcha-Latte zuzubereiten, und die Influencerin hat sie alle ausprobiert. Eingehüllt ins passende Workout-Set in wahlweise creme, mintfarben oder babyblau übersteht sie so ihren Tag. Eine Smoothiebowl zur Skincare-Routine, danach ein Iced Coffee im dekorativen Glas und ein bisschen Journaling bei Kerzenschein, um den sinnentleerten Alltag Revue passieren zu lassen. So könnte das zumindest aussehen bei ihr – einen Blick hinter die wohlgepflegte Fassade gewährt sie uns nicht. Zu beschäftigt ist sie damit, die beste Version ihrer Selbst zu werden: Eine, die nicht viel braucht, um glücklich zu sein. Eine, die nachhaltig lebt und ihre simple Routine genießt. Eine, die frei ist von materiellen Zwängen.


Die (fiktive) Influencerin steht sinnbildlich für einen Widerspruch unserer Zeit. Irgendwie sind wir ja ganz postmaterialistisch eingestellt, setzen uns für Umweltschutz ein und für Minimalismus, versuchen uns selbst zu optimieren, und zwar ohne dafür ein teures Auto zu brauchen. Und trotzdem ist der materielle Konsum ein zentraler Teil unseres Lebens – ein Dutzend Selfhelp-Ratgeber, um im neuen Jahr endlich weniger Selbstzweifel zu haben, ein Schrank voll Skincare, um dafür weniger Make-up tragen zu müssen, und diese stylischen Behälter aus Bambus für die Küche. Die sehen einfach minimalistischer aus als die alten Tupper-Dosen.


Dabei waren wir den Materialismus der Nachkriegsgeneration doch angeblich los. Laut der einflussreichen Theorie von Inglehart hat sich in den westlichen Industrienationen ein Wertewandel vollzogen, weg von materialistischen Werten wie Preisstabilität und Sicherheit, hin zu postmaterialistischen Werten wie Umweltschutz, Meinungsfreiheit und Bildung. Nur, dass man es sich erst einmal leisten können muss, ein:e Postmaterialist:in zu sein. Dass sich Menschen in der aktuellen Inflation finanzielle Sicherheit und Ordnung wünschen, ist doch ziemlich logisch. Darüber hinaus ist der Konsum von materiellen Gütern im Kapitalismus identitätsstiftend, wie Alissa in der letzten Woche erklärt hat.


Dass der eigentlich sehr postmaterialistische Drang nach Individualisierung und persönlicher Weiterentwicklung sich in den sozialen Medien gerade so materialistisch äußert, ist auch mal wieder so ein Symptom des kapitalistischen Wirtschaftssystems: Selbstfürsorge ist nur einer der vielen Märkte, die akquiriert werden müssen, um das System am laufen zu halten. Dabei werden uns Wellness, Skincare und Konsorten doch vor allem verkauft, damit wir uns umso effizienter ausbeuten lassen können: Nach der 40-Stunden-Woche eine Gesichtsmaske, bitteschön, dankesehr.


Und so schnell werden dann all die Werte, die eigentlich als Zeichen für eine fortschrittliche Gesellschaft dienen sollten, zum konsumierbaren Produkt. Ein bisschen Feminismus für 10% off, denn die hatten nicht nur normschöne weiße Frauen in der Werbung. Ein bisschen Umweltschutz fürs gute Gewissen beim Ryanair-Checkout, denn wenigstens pflanzen die für meinen 1,5-Stunden-Flug einen Baum. So richtig fortschrittlich ist das nicht, und das ist uns auch eigentlich bewusst. Und so sind wir dann irgendwie hin- und hergerissen zwischen materialistischen und postmaterialistischen Werten. Eigentlich wären wir gern frei von diesen ganzen Dingen, würden uns gern dem Inneren widmen, oder am besten ganz zur Natur zurück, in ‘nem alten Minivan oder so. Aber draußen ist es kalt. Und so ‘nen Van auszubauen, das ist scheiße teuer. Haben die auf Instagram gesagt.

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